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Aktuelles

GAV Bonn

Bild vom Wegesrand der Demokratie 

Bonn, 12. Juni 2024: Ausstellung in Bundestkunsthalle, Rundgang durch das Regierungsviertel 

Wohl dem Kurator, der per Zufall in der Abstellkammer auf Exponate für die nächste Ausstellung trifft. So erging es den drei Macherinnen der aktuellen Ausstellung "Für alle - Demokratie neu gestalten" in der Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn. Sie fanden einen Haufen Stühle, die 1990 die Gesäße der deutsch-deutschen Rundtischteilnehmer aufnahmen. Johanna Adam, Amelie Klein und Vera Sacchetti arrangierten die Stücke so, wie sie sie fanden. Kein Müllhaufen, ein Stuhlhaufen der Geschichte. 

Der Siegburger Geschichtsverein tauchte am Mittwoch ein in die Historie der Volksherrschaft, bestaunte einen Losautomat der griechischen Antike, über den öffentliche Ämter vergeben wurden, oder die Abstimmungskultur der Irokesen, die bei richtungsweisenden Entscheidungen immer eine Partei bildeten, die die Sicht der Nachwelt auf den Beratungsgegenstand einnahm und entsprechend votierte. 

Nach der Stärkung in einem italienischen Restaurant ging's auf die Stadtführung entlang des "Wegs der Demokratie": Villa Hammerschmidt und ehemaliges Kanzleramt, in dem heute (auch) über Entwicklungshilfe in Form von lateinamerikanischen Radwegen entschieden wird, dann weiter zum World Conference Center, in dem die Vereinten Nationen gerade mit Irokesenblick aufs Weltklima schauten. Die Internationalität hat nicht gelitten mit dem Regierungsumzug. Im Gegenteil. Togolesische Kundschaft am Bundesbüdchen, das ist Bonn 2024.

GAV Landjuden

Gedemütigt, vertrieben und ermordet

Neue Erinnerung an Landjuden - zu Besuch in Windeck-Rosbach am 17. April 2024

Der Geschichtsverein unterwegs im Osten des Kreisgebiets. Die Gruppe besuchte am Mittwoch in Windeck-Rosbach das Museum für die Landjuden an der Sieg. Der vor 30 Jahren im einstigen Wohnhaus der Familie Seligman eingerichtete Erinnerungsort hat nach Schließung und aufwändigen Umbauten die finale Phase der Neugestaltung erreicht und kann in Kürze Wiedereröffnung feiern.

Die Ausstellung behandelt am Beispiel der weit verzweigten Seligmanns die Themen christlich-jüdisches Zusammenleben bis 1933, Sabbatkultur, Emigration, Deportation und Vernichtung. Die Familie war in Rosbach be- und anerkannt, einer sang im Chor, ein anderer hütete das Fußballtor. Ihren Unterhalt verdienten die Männer mit Vieh- oder Textilhandel. Im Zuge des Novemberpogroms scheuchte man sie aus ihren Häusern auf den Dorfplatz, verpasste ihnen vor aller Augen Schläge und Tritte, sperrte sie in Ermangelung einer Zelle ins Spritzenhaus, verfrachtete sie - via Köln und zunächst vorübergehend - ins KZ Dachau. Die für den Abtransport nötigen LKW bezahlten die örtlichen Parteiverantwortlichen von dem Geld, das sie ihren jüdischen Mitbürgern entrissen. 

Die Wege der Familienmitglieder Seligmann führten später weiter in den Tod im Rigaer Ghetto, ins rettende inländische Versteck oder ins Exil nach Argentinien. Die Argentinier kehrten nach unglücklichen Jahren mühseliger Pionierarbeit ins Land der Täter zurück.  Täter, ein gutes Stichwort: Nach 1945 konfrontierten jüdische Überlebende die Behörden mit den allseits bekannten Namen der Rosbacher Synagogenbrandstifter. Anzeige und Verurteilung folgten, das schlappe Strafmaß glich dem für Diebstahl einer Kiste Birnen.

Heute fährt die Polizei bis zu achtmal täglich am kleinen Haus mit großer Geschichte vorbei. Wohl auch wegen dieser Schutzmaßnahmen sei es bislang nur zu einem nennenswerten Vorfall gekommen, berichtete Dr. Claudia Maria Arndt, die als Archivarin des Rhein-Sieg-Kreises mit der Geschäftsführung der Gedenkstätte beauftragt ist. Jugendliche schmierten ein Hakenkreuz an die Fassade. Sie wurden ermittelt und vom Richter vergattert, Spenden zu sammeln. Für den Förderverein der von Ihnen verunstalteten Institution.
 

GAV Wuppertal 1

Kommunismus und Mobilität

Zu Engels und zur Schwebebahn am 13. März 2024

An einem Mittwoch in Wuppertal, Teil 1

Nein, Wuppertal an einem Regentag ist keine Reise wert. Aber ja, Wuppertal an einem Regentag ist auf jeden Fall eine Reise wert! Der Siegburger Geschichtsverein visitierte am 13. März ganztägig im Tal der Wupper. Im Stadtteil Barmen, um genau zu sein. Hier steht das Haus, das an Friedrich Engels erinnert. DER Friedrich Engels, der zusammen mit Karl Marx - den der Millionär und Miteigentümer einer Textilfabrik in Manchester großzügig alimentierte - das Kommunistische und andere Manifeste veröffentlichte. 

Die Bibel der Bibellosen lagert dünn und vergilbt in der Vitrine der biedermeierschen Industriellenherberge, die Immobilie trägt die Schindel-Handschrift des "Bergischen Barock". Draußen im Engelsgarten, einer verkehrsumtosten Grünanlage, die jene Wuppertaler mit Zeit, Hang zu alkoholischen Dosengetränken und legerem Beinkleid frequentieren, steht eine gewaltige Statue. So haben Ost-Berlin, Moskau, Hanoi oder Peking ausgesehen, tun es vielleicht noch heute. Das mulmige Gefühl verschwindet, als der Gästeführer die Denkmalsgeschichte erzählt. Sie ist zeitgeistig-lustig und geht so: 2010 besucht eine hochrangige chinesische Polit-Delegation Wuppertal, das offizielle Gratulationskommando der Volksrepublik zu Engels' 190. Geburtstag. Wen die Vorreiter des Staatskapitalisten nicht finden, ist - Engels! Vier Jahre später kommt ein beinahe tonnenschweres Geschenk aus Fernost an, das in Wuppertal eigentlich niemand braucht. Mit einem Übergabe-und-Einweihungstermin, der vom Bürgermeister freundliches Weglächeln verlangt. Jetzt steht er da, der "große Fritz", sehr nachdenklich verfolgt er den Gang der Welt. Was er zur nächsten Ausbaustufe des Kapitalismus, der KI-Revolution, sagen würde?

Foto: Aufmarsch am Denkmal. Der Siegburger Geschichts- und Altertumsverein nähert sich Friedrich Engels (1820-1895).

GAV Wuppertal 2

An einem Mittwoch in Wuppertal, Teil 2
Nächste Etappe des Geschichtsvereinsbesuchs: das Schwebebahnmuseum "Schwebodrom", eingeweiht erst vor einem halben Jahr. Absolut erlebenswert ist die Installation des Lichtkünstlers Gregor Eisenmann. Der Besucher wird fortgerissen in einem Strudel der Entwicklungen, die mit der Postkutsche im frühen 19. Jahrhundert beginnt und mit den ersten Flugzeugen endet. Gleichzeitig wird gehämmert, geschraubt, Motoren dröhnen. Als die Schwebebahn 1901 in Betrieb genommen wird, haben Elberfeld, Barmen, Cronenberg, Ronsdorf und Vohwinkel (Wuppertal gibt's erst seit 1929) mit den Städten, die der "Travel-Influencer" Karl Baedeker in vorindustrieller Zeit beschrieb, nichts mehr zu tun.
 

GAV Wuppertal 3

An einem Mittwoch in Wuppertal, Teil 3
Hauptattraktion des Schwebebahnmuseums ist die virtuelle Fahrt durch das Jahr 1929 mit der VR-Brille. Das Ufer ist komplett in der Hand der Textilfabriken, es qualmt, es pufft, es rattert und quietscht. Der Fluss ist schwarz wie die Nacht oder rot wie Blut, abhängig vom jeweiligen Produktionsprozess. Die Zusammenlegung der Hauptorte Barmen und Elberfeld führt zur Einrichtungsverdopplung - Theater, Rathäuser, alles in zweifacher Ausfertigung vorhanden. Daneben pulsierendes Straßenleben. Ein Taschendieb rennt davon, eine Werkhalle fängt Feuer. Großes Kino.
 

GAV in Bonn

Frauen (und Männer) im Museum

Haft und Heiterkeit im Frauenmusuem am 24. Januar 2024

Mit einer verwirrenden Fülle an Eindrücken kehrten die Mitglieder des Geschichtsvereins aus der Bonner Altstadt zurück. Das 1981 gegründete und seinerzeit erste Frauenmuseum überhaupt hat inzwischen weltweit 59 Nachahmer. In dem alten Kaufhaus "Im Krausfeld" existieren künstlerische, historische, sakrale, ökologische und gastronomische Nutzungseinheiten in einem kunterbunten Mix. Ein versteckt liegendes Biotop, mehr Kulturzentrum als Museum.

Aus der JVA Vechta stammende Frauenkunst stand zunächst auf dem Besichtigungszettel der Siegburger. Durch das Malen, Zeichnen und Werkeln machen die inhaftierten Frauen, häufig erstmals im Leben, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Klingt abgehoben, meint das Folgende: Ich kann was. Ich kann was bewegen. Ein großes Pfund, um außerhalb der zehn Quadratmeter zurechtzukommen. 

Die Ausstellung zu Frauen hinter Gittern geht über das JVA-Projekt weit hinaus. Eine nach dem Zweiten Weltkrieg konstruierte, aber nie genutzte Guillotine zog angstvolle Blicke auf sich. Sie sollte einer Verbrecherin das Haupt abtrennen. Der Prozess und die Nachwehen zogen sich hin. Als die Vollstreckung angestanden hätte, war die Bundesrepublik geboren. In ihr war kein Platz mehr für das Köpfen oder den Strang. Die Guillotine ging nie in Gebrauch.

Der zweite Teil des Besuchs konnte kontrastreicher nicht sein. Museumsgründerin Marianne Pitzen führte persönlich auf die weibliche Seite des Bönnschen Fastelovends. Die Bonnas stehen im Zentrum einer zweiten aktuell laufenden Sonderschau. Die Bonner Karnevalsprinzessin wurde lange von Männern verkörpert, ehe die Nazis homoerotische Spielereien in der Tollitäten-Sphäre fürchteten und Frauen auf den Narrenthron setzten. Nach dem Krieg blieb es dabei, wobei sich die Rolle der Schönen spürbar wandelte. Bonnas früherer Tage schlossen sich der verbalen "Stimmungsmache" ihrer Prinzen folgsam an. Oder sie sparten sich eigene Beiträge ganz. Lächeln und schweigen - das war die langweilige Devise. Die moderne Bonna macht die Schnüss op, wie es ihr beliebt. 

Eine eigene Emanzipationsentwicklung durchliefen die Beueler Wäscherinnen, die Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die gesellschaftlich verordnete Passivität aufbegehrten. Sie schufteten bis zum Umfallen, vertrauten den Herren der Schöpfung das weiß geschrubbte Ergebnis ihrer Hände Arbeit an. Was machten die? Sie belieferten die Kundschaft, sackten das Geld ein und verjubelten es in der Kneipe. Nicht nur an Karneval. "Nix da, wir jubeln selber", sagten sich die Frauen, etablierten Damenkomitees, machten den Donnerstag zu ihrer Weiberfastnacht. 

Marianne Pitzen hatte kaum geendet, da sprang der nächste Bonner V.I.P. hinter der Vitrine hervor. Der stadtbekannte Travestiekünstler Curt Dalander geht schon lange im Frauenmuseum ein und aus. Der Gläubige - "Ich bin schwul und ein rheinisch-römischer Katholik" - hat eine Kapelle im Haus eingerichtet, ausgestattet mit Resten der 1944 schwer beschädigten und zu Friedenszeiten abgetragenen Gertrudiskapelle. 

Drei Begegnungen an einem Tag, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Ausflugsherz, was willst du mehr? Die nächste Fahrt führt den Geschichtsverein am 13. März ins Schwebebahnmuseum Wuppertal. Informationen unter 02241/102-1282 oder gav@siegburg.de. 

Fotos (J. Gerull/ C. Thomas): Gitterstäbe der Gefängnisausstellung links, die charismatische Museumsgründerin Marianne Pitzen rechts. 

Exkursion Münster

Nackte Tatsachen beenden das Vereinsjahr 2023

 In Müster am 13. Dezember 2023

Nackten Tatsachen im abseits der Stundenszene als prüde geltenden Münster widmete sich der Siegburger Geschichtsverein auf seiner Jahresendexkursion. Das Museum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe zeigt aktuell in einer Kooperation mit der weltkannten "Tate London" Akte aus anderthalb Jahrhunderten. Die Geschichtsfreunde sahen hüllenloses Fleisch der Kategorien politisch bis voyeuristisch, sinnlich bis alptraumhaft - immer hochwertig, waren doch Namen wie Macke, Schmidt-Rottluff, Matisse, Rodin, Picasso und Munch am Werk.

Das oben zu sehende, fotorealistische Bild ist das "Lesende Mädchen", deren lässige Pose ungemein modern wirkt und doch gar nicht modern ist. In seiner prächtigen Wucht hilft der Rahmen bei der zeitlichen Einordnung. Der französisch-britische Künstler Theodor Roussel hat die junge Dame bereits 1866 in den Stuhl gesetzt. 

Zu den meistdiskutierten Schaustücken gehören drei Fotografien, die Mütter mit gerade geborenem Nachwuchs zeigen - ganz so, wie Mütter, die entbunden haben, aussehen. Die Museums-Guide: "Nicht wenige Besucher halten diese Aufnahmen für die größte Provokation der gesamten Ausstellung." Gynäkologinnen, die gemeinsam zur Visite der Schau aufgebrochen war, zeigten gegenteilige Gefühlsregungen. Die Führerin erklärend: "Die Ärztinnen haben gejubelt wegen des Muts zum Realismus."

Nach einer Stärkung im museumseigenen Restaurant verteilten sich die Mitglieder des Vereins auf die verstreut liegenden Weihnachtsmärkte der Münsteraner Innenstadt, tranken Glühwein und schossen Prinzipalmarkterinnerungsfotos. Mit Fahrrädern, na klar!

 

 

 

 

Jubiläumsvortrag

Happy Birthday, lieber GAV!

Nachlese zur 1000-Jahrfeier des GAV-SU und Rhein-Sieg-Kreis e.V.                 (eine nicht ernstzunehmende Nachlese)
Lieber Leser,

auch ich war erstaunt, daß  unser o.g. Verein tatsächlich vor der Besiedlung und Stadtgründung Siegburgs (anno 1064) gegründet worden war. Das sollte natürlich gebührend gefeiert werden, und so waren die Vereinsmitglieder vom Vorstand unter dem Vorsitz  des OB S.R. zu den Feierlichkeiten mit folgendem Programm eingeladen worden:

  •  Jahreshauptversammlung
  •  Vorstandssitzung
  •  Sektempfang mit Fingerfood
  •  Laudatio durch den Vorsitzenden OB S.R. und Landrätin N.K.
  •  Festvortrag von Prof. Dr. C.Z. mit dem Thema Provenienzforschung.

Der Verlauf der Jahreshauptversammlung lief wie nicht anders zu erwarten war harmonisch und diszipliniert ab. Der geschäftsführende Vorsitzende J.G. hielt eine kurze Rückschau zu den Aktivitäten der letzten Jahre. Pandemiebedingt erklärte er den Rückgang der Teilnehmerzahlen der Exkursionen von früher einer Busladung mit Anhänger auf jetzt nur einen spärlich besetzten Bus zurück. Außergewöhnlich gut besucht war die letzte Exkursion innerhalb Siegburgs mit den Sujets: die neu konzipierte Ausstellung Engelbert Humperdinck und ein Gespräch mit dem Künstler des Bilderfries am renovierten Rathaus. Ein erstes Exemplar eines Bildes am Rathaus mit dem Konterfei der Schriftstellerin R.R., der Tochter des Siegburger Kaplans H.A.R., der in den 30er und 40er Jahren in Siegburg tätig war. Weitere Bilder Siegburger Koryphäen und Originale, wie z.B. vom Weltmeister von 1954 W.O., werden bald zu bewundern sein.

Erfreulich die Gewinn und Verlustrechnung des Vereins, die mit einem Gewinn von rund 525.000,- € abschloß. Einziger Kritikpunkt waren die hohen Portokosten von 370.000,- €, die teilweise zurückzuführen waren auf Doppelbenachrichtungen, da Mitgliedsehepaare darauf bestanden, daß jeder Ehepartner immer eine separate Info bekommen solle. Als Anregung wurde dem Vorstand die Überlegung aufgetragen, auf eine digitale Benachrichtigung umzustellen. Dem Vorstand und der Kassenführung wurde anschließend Entlastung erteilt. Unter Verschiedenes wurden auch noch einige Anregungen diskutiert. U.a. kam noch der Vorschlag des Kassenprüfers Dr. M., den eklatanten Mitgliederschwund der mittlerweile friedhofsblonden Mitgliedermajorität entgegenzutreten durch Gewinnung jüngerer Mitglieder z.B. durch Anbieten von Discos für die Jüngsten oder Tanzabende für die Middleager.

Von der geheimen Vorstandssitzung kann ich nichts berichten, da geheim! Aber doch es gab etwas, das sollte aber nicht in die breite Öffentlichkeit getragen werden: Der Vorsitzende OB S.R. , inspiriert durch seine kürzliche Rolle als St.Martin, war die ihm angeborene soziale Ader verstärkt worden und hatte deshalb beschlossen, den Gewinns des Vereins den Mitgliedern in Form einer Dividende von 10,6 % zukommen zu lassen. Diese Nachricht war natürlich Wasser auf den Mühlen der Mitglieder, die in froher Stimmung und beim anschließenden Sektempfang und Fingerfood von der Metzgrei B. es sich gut gehen ließen.

Nach der Laudatio des OB S.R. und der stellvertretenden Landrätin N.K. schloß der Festvortrag von Prof. Dr. C.Z. an. Die Provienzforschung, neuerdings ein Lehrstuhl der Bonner Universität, befasst sich mit historischen Perspektiven und den aktuellen Herausforderungen. Die Washingtoner Prinzipien, verfasst 1998, sind eine rechtlich nicht bindene Übereinkunft über die Restitution von Raubkunst (aus nationalsozialistischer oder auch Kolonialzeit). Der recht kurzweilige Vortrag stieß anhand aktueller Restitutionsbeispiele und deren Komplexität auf sehr aufmerksame Zuhörer. So wurde das Beispiel eines Bildes angeführt, das im Besitz eines jüdischen Galeristen war, das während des Nationalsozialismus versteigert werden mußte, von einem Juden ersteigert wurde und danach als Raubkunst in einem deutschen Museum auftauchte. Die komplizierte Frage war nun, wem die Eigentumsrechte zuständen. Oder der Fall der Benin-Bronzen aus der deutschen Kolonialzeit. Die Bronzen waren britische Raubkunst, die in der Vergangenheit in deutsche Museen gelangten. Nachdem der Staat Nigeria Besitzansprüche gestellt hatte, wurden die Bronzen Nigeria anläßlich eines Besuches unser Ministerin für Touristik und Feminismus (A.B.) neben einigen Geldkoffern auch die Bronzen dem Staat Nigeria zurückgegeben. Zurecht meldeten sich nun die früheren Eigentümer, die Nachkommen der einstigen Herrscherfamilie, die darauf ihre Bronzen zurückerhielten. Neuere Erkenntnisse ergaben, dass ein tüchtiger Geschäftsmann aus Siegburg mit guten Verbindungen nach Nigeria und den alten Eigentümern der Bronzen diese ihnen gegen eine nicht genannte Summe Euro abgekauft hatte und dem Geschichtsmuseum in Berlin übereignete. Ja, es war ein spannender Vortrag mit Überraschungen: so auch die Tatsache, dass selbst in israelischen Museen Raubkunst aufgetaucht und restituiert worden war.

So war dieser Jubiläumsabend ein gelungenes und erkenntnisreiches Fest, das allen lange in Erinnerung bleiben wird. Man möge mir kleine Ungenauigkeiten entschuldigen, die meinem fortgeschrittenen Alter zuzuschreiben sind.
KHS
Siegburg am 16. November 2023

NS-Raubkunst und Beninbronzen zum 120. Vereinsgeburtstag am 15. November 2023

Wie aktuell das Thema war, das sich der Geschichts- und Altertumsverein (GAV) für seine 120-Jahr-Feier im Museum ausgesucht hatte, wird beim Blick in die Zeitungen deutlich. "Schweiz setzt Kommission zu NS-Raubkunst ein" vermeldete der Kölner Stadt-Anzeiger in der letzten Woche auf seiner Kulturseite. Die Eidgenossen machen es damit den deutschen und österreichischen Nachbarn nach.

Zum runden Geburtstag lud sich der GAV Prof. Dr. Christoph Zuschlag von der Bonner Uni ins Museum. Zuschlag bekleidet die - Achtung, langer Titel! - "Alfred Krupp von Bohlen und Halbach-Professur für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart (19. bis 21. Jahrhundert) mit Schwerpunkt Provenienzforschung". 
Die informativ-unterhaltsam Vorlesung nach standesgemäßem Sektempfang stellte dann auch die Provenienzforschung, die Beschäftigung mit der Biografie von Kulturgütern, in den Mittelpunkt. Provenienzforschung und Restitution, was so viel heißt wie Rückerstattung, sind zwei Bereiche, die die Wissenschaft fein säuberlich trennt, die aber in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Block verschmelzen. 

Zuschlag eröffnete mit dem Sturm im Blätterwald, den der Fall des Münchner Sammlers Cornelius Gurlitt 2012/13 auslöste. Gurlitt lebte in einer illustren Schwabinger Wohngemeinschaft mit Matisse, Beckmann, Rodin. Natürlich nicht mit den Herren persönlich, sondern mit ihren Werken. Die Frage war: Welche Stücke sind durch braune Gier entzogen worden? Gurlitt starb wenig später, einige Hochkaräter wurden inzwischen restituiert. Zuschlag machte deutlich: Der "Return" von Naziraubkunst verlangt nach intensiver Familienforschung. Gesucht werden insbesondere die Nachfahren von jüdischen Sammlern und Händlern. 

Die Einrichtung des Humboldt-Forums für Völkerkunde in Berlin befeuerte die Debatte um Aneignungen im kolonialen Kontext. Schwierig hier: An wen zurückgeben? An Zentralregierungen, wie die von Nigeria? Oder an Königshäuser und/oder Stammesälteste im Land, also de facto an Privatpersonen? Und weiter: Ist deren moralische Berechtigung, die Exponaten aus unseren Museen zu erhalten, dann verwirkt, wenn sich nachweisen lässt, dass ihre gekrönten Vorfahren die Mittel für das Schöne hatten, weil sie einträglich vom Sklavenhandel mit den Europäern lebten? Neuere Studien weisen nach, dass die Verschiffung von Millionen Menschen so erfolgreich war, weil die Drahtzieher afrikanische Kollaborateure hatten.
Einen Rückgabezweifel wischte Zuschlag fort: "Das konservatorische Argument, dass Ausstellungsstücke in europäischen Häusern besser vor dem Verfall geschützt sind, zieht nicht. Es ist ein neokoloniales." Offen blieb auf der lehrreichen Geburtstagsparty nur eine ungeklärte Provenienz. Woher stammte der klitzekleine Marienkäfer, der sich während des Vortrags auf der Fingerspitze des Referenten niederließ?

Foto: Rund 60 Zuhörer kamen hatte der Vortrag, der in Kooperation mit dem Förderverein der Gedenkstätte Landjuden an der Sieg ausgerichtet wurde. 
 

GAV sichtet zwei Siegburger Kulturneuheiten

Humperdinck und andere Größen der Stadtgeschichte

Musik im Museum trifft Kunst am Bau - 25. Oktober 2023

Die Fahrten in diesem Jahr gingen nach Essen, ins Siebengebirge, nach Bonn. Die letzte Exkursion, die der Geschichts- und Altertumsverein (GAV) seinen Mitgliedern anbot, hatte zwei naheliegende Ziele, das Stadtmuseum und das Rathaus. 40 Frauen und Männer folgten der Einladung. 

Teil eins der Veranstaltung führte in die brandneue Humperdinckschau in dessen Geburtshaus. Stefanie Kemp, stellvertretende Museumleiterin und GAVlerin, durchkämmte das Leben des Komponisten in 60 ereignisreichen Minuten, zeigte bislang nur schwach ausgeleuchtete Facetten auf. Der Künstler als Genie in Sachen Eigenwerbung, der Frau und Kinder in Autogramkartenmotive einbindet, um den Absatz zu mehren. Als Lästermaul gegenüber dem Kollegenwerk, dessen Kritiken ganz modern im Instagram-Design serviert werden. Als Rheinlandfan und Prophet im eigenen Land, der empört ausruft: "Ich bin überall mehr bekannt als in meiner Heimat." Als Abhängiger weiblichen Einfallsreichtums, waren es doch die Frauen, die ihm als Librettistinnen zum Welterfolg verhalfen, an dem sie riechen, aber nicht kosten durften. Schließlich als Komponist, der weit mehr war als der Schöpfer der ewigen Märchenoper "Hänsel und Gretel". Seine Zusammenarbeit mit der Theaterlegende Max Reinhardt für das pantomimische Bühnenspiel "Mirakel" war äußerst fruchtbar. Die Mirakel-Musik hörten Besucher in Berlin, London oder am Broadway in Manhattan mit Begeisterung.

Nach dem Ende der Führung und einer Rievkooche-Stärkung im Brauhaus steuerte die Gruppe das Rathaus an. Den einzigen Lichtblick, den die graue Baustelle bei Regenwetter liefert, ist der bereits angebrachte Mosaikstein des Siegburger Bilderfries'. Das Kunstwerk, mehrfach beschrieben in siegburgaktuell, ist ein Prominentenpanorama entlang der Fensterfronten zum Friedensplatz und zum Nogenter Platz. 

Versammelt im Besprechungscontainer an der alten Stadtmauer, unterhielt sich die Exkursionsschar angeregt mit dem per Video aus seiner südfranzösischen Wahlheimat zugeschalteten Künstler Udo Zembok, Vater des Bilderfries'. Zembok gab bereitwillig Auskunft zu technischen Details und zur Auswahl der Persönlichkeiten. Mit dem Künstlergespräch schloss sich ein Kreis. Vor zwei Jahren, im November 2021, hatte der inzwischen 90-jährige Rathausarchitekt Peter Busmann dem Geschichtsverein von seiner Enttäuschung berichtet, dass sich in den 1960er-Jahren kein Siegburger Verantwortlicher für Kunst am damaligen Neubau erwärmen konnte. Umso erfreuter war Busmann, als er vor drei Wochen zusammen mit Zembok die erste V.I.P.-Scheibe mit dem Konterfei der Schriftstellerin Ruth Rehman einsetzen konnte. 

Foto oben: Rappelvoll wurde es im blauen Salon der neuen Museumsabteilung über Engelbert Humperdinck. Foto unten: Der Künstler ist anwesend, jedenfalls auf dem Screen. Der GAV im Video-Gespräch mit Bilderfriesschöpfer Udo Zembok. 

Stadtführer Kernenbach mit einer "abgerissenen" Plastikhand.

Führung hatte Hand und Fuß

Kriminalistische Stadtführung am 13. September 2023

"Warum in die Ferne schweifen, wenn das Böse liegt so nah?" Mit dem ersten Satz seiner Einladung traf der Geschichts- und Altertumsverein, kurz GAV, bei seinen Mitgliedern ins Tiefschwarze. Die am Mittwochmorgen von Hans-Willi Kernenbach angebotene Kriminalführung durch Siegburg fand 30 Interessierte. Kernenbach, ehemaliger Polizist und Mordermittler, begann geschickt mit einer Aufzählung der Straftatbestände in "Hänsel und Gretel", Siegburgs liebstem Märchen. Fazit: Alle Protagonisten haben sich etwas zu Schulden kommen lassen.

Es folgte ein wilder Ritt durch ein halbes Jahrtausend Rechts(medizin)geschichte und die feinsäuberlich zu trennenden Felder Mord und Totschlag. Hier eine mittelalte Mittelalter-Leiche im Mühlengraben, dort abgetrennte Körperteile in Katzenschälchen und die Erkenntnis, dass Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau grausam enden können. Amüsant die Story vom Blitzeinbrecher, der nach einer Verfolgungsjagd den 2002 noch undurchdringlichen Michaelsberg als Versteck wählt. Nicht bedenkend, dass er umstellt werden kann. Als einer der diensthabenden Polizisten nach durchwachter Nacht aus der Belagerungskette ausschert, um sich im dichten Gebüsch zu erleichtern, blickt er in die angstvoll-aufgerissenen Augen des Schmuckdiebes. Kernenbach bietet die Krimiführung mit großem Erfolg auch für die Öffentlichkeit an. 

Die nächsten Termine des Geschichtsvereins: Am 25. Oktober erklärt Künstler Udo Zembok sein am Rathaus geplantes Werk "Der Siegburger Bilderfries", das die Konterfeis bekannter Persönlichkeiten collagenartig aufnimmt. Am 15. November, nach der Jahreshauptversammlung, hält Prof. Dr. Christoph Zuschlag von der Uni Bonn einen Festvortrag zum 120-jährigen Bestehen des Vereins im Stadtmuseum. Titel: "Provenienzforschung - historische Perspektive und aktuelle Herausforderung". Es geht um von den Nazis geraubte Kunstschätze aus jüdischem Besitz oder die sogenannten Beninbronzen.

 Foto: Keine Sorge, nur eine Requisite. Stadtführer und GAV-Mitglied Kernenbach streckt der Gruppe zu Demonstrationszwecken eine abgerissene Hand entgegen. 

GAV Exkursion Essen

Kampf um Kohle und Kugel

100 Jahre Ruhrkampf und 60 Jahre Bundesliga - Besuch auf Zeche Zollverein am 23. August 2023

Bei der Planung ihrer Veranstaltungen orientieren sich große Ausstellungshäuser an historischen Jubiläen. Nicht alle Jahrestage werden freudig begrüßt. Manche Geburtstage sind unbequem, weil sie quer zum Zeitgeist stehen. Mit nur wenigen Monaten Vorlauf und deutlich hörbarem Magengrummeln arbeitete man im Ruhrmuseum auf Zeche Zollverein, dem Weltkulturerbe in Essen, an der Ausstellung "Hände weg vom Ruhrgebiet!", die sich genau ein Jahrhundert später mit den Geschehnissen des Ruhrkampfs auseinandersetzen sollte. 

Die Skrupel der Museumsmacher erwuchsen aus der Tatsache, dass sich im zu behandelnden Krisenjahr 1923 Deutsche auf der einen und Belgier und Franzosen auf der anderen Seite an Bahnhöfen und Kohleschächten grimmig gegenüberstanden. Die Erzfeindschaftspropaganda blühte, bei Zusammenstößen und Anschlägen gab es Tote. In den letztens sechs Jahrzehnten hingegen sind Schwarzrotgold und Blauweißrot bemüht um gute Nachbarschaft, die im Großen und Ganzen hervorragend funktioniert. Sollte man da, so die bange Frage, historische Differenzen über Gebühr betonen? Gibt das nicht unverbesserlichen Deutschtümlern und Europaskeptikern Auftrieb? 

Dass die Last-Minute-Ausstellung sehr wohl gelang, davon überzeugte sich der Siegburger Geschichts- und Altertumsverein (GAV) am letzten Mittwoch. Die Führung durch die räumlich komprimierte Exposition war selbst für gut Informierte lehrreich: Neben den passiv Widerstand leistenden Malochern reisten damals Krawallmacher und Rechtsterroristen aus allen Teilen Deutschlands vom Schlage eines Leo Schlageter zu, die ausschließlich auf Eskalation sannen. Dennoch gab es - wechselt man die Perspektive - französische Soldaten, deren nach Hause geschickte Grüße mehr nach Ansichtskarte aus dem Urlaub als nach Feldpost klangen. 

Nachmittags verlagerte die Siegburger Geschichtsgruppe ihren Standort nur geringfügig. Eine Fotoausstellung, ebenso auf Zeche Zollverein gezeigt, nimmt 60 Jahre nach Gründung der Bundesliga den Fußball an der Ruhr ins Visier. Grandiose Aufnahmen sind zu sehen: Derby zwischen S04 und BVB in den 1990ern mit dem "Kampfschwein" Marc Wilmots, der den eisenharten Jürgen Kohler vom Feld tritt. Der legendäre Biss eines Schäferhunds ins Gesäß von Friedel Rausch. Ein heftig gestikulierender Peter Neururer in jungen Jahren auf der Trainerbank. Sein Nachname führt in die Irre. Unikat Peter ist eher ein "Alt-Ruhrer", der seit Anbeginn der Zeit irgendwie dazugehört im Revier. Wer das Fachmagazin "11Freunde" liest oder Stammgast in der WDR-Show "Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs" ist, wird die Fotos lieben. 

Prof. Helmut Fischer

Nachruf auf Prof. Dr. Helmut Fischer

Geschichtsverein trauert um verdienten Heimatforscher - 1. August 2023

Ihn interessierte alles, was das Volk interessierte. Wallfahrten und Sch(w)ankgeschichten, Briefe aus dem nordrussischen Kriegsgefangenenlager in die rheinische Heimat, Märchen und Sagen und ihre Relevanz fürs kulturelle Miteinander. Nicht weniger als 40 Aufsätze veröffentliche der am 23. Juli im Alter von 88 Jahren verstorbene Helmut Fischer aus Hennef in den Heimatblättern des Rhein-Sieg-Kreises, der vom Geschichts- und Altertumsverein herausgegebenen historischen Reihe. Seine Texte spannten den Bogen vom Hochmittelalter bis weit hinein ins 20. Jahrhundert. Fischers letzter Artikel über dem Weinbau an der Sieg ging Mitte Juli in den Druck. 
Fischer, geboren 1934 in Geistingen, machte Abitur in Siegburg, studierte in Bonn Geschichte, Philosophie und Sprachwissenschaften, arbeitet als Volksschullehrer und wissenschaftlicher Assistent der pädagogischen Hochschule. Später, nach der Habilitation, war er zweieinhalb Jahrzehnte Professor für Germanistik und Literaturwissenschaft in Essen, erhielt 2002 den „Europäischen Märchenpreis“. Durch seine herausragenden lokalgeschichtlichen Quellen- und Literaturkenntnisse war er hochgeschätzt und wurde häufig konsultiert. Gänge ins Hennefer Stadtarchiv gehörten zur festen Wochenroutine. Bürgermeister Stefan Rosemann, Vorsitzender des Geschichtsvereins, erinnert an die jahrzehntelange Vorstandsarbeit Fischers und das bis zuletzt ungebrochene publizistische Engagement: „Die Arbeit von Professor Fischer ist in der Region beinahe beispiellos und wird lange nachwirken.“
Foto: Professor Dr. Helmut Fischer mit den Heimatblättern im Siegburger Ratssaal. Das Bild entstand im Februar 2015.

Drei Siegburger Schnellen

Wirtschaftskrimi aus dem 16. Jahrhundert 

Museumsgespräch am 15. Juni 2023 widmet sich Technologietransfer

Unternehmen florieren, wenn sie den Mitbewerbern deren Könner abluchsen. Heute wie vor 500 Jahren. Diese Erkenntnis verbreitete Keramikexpertin Dr. Marion Roehmer in ihrem „Wirtschaftskrimi“-Museumsgespräch mit dem Titel „Bilderkannen jetzt auch aus Siegburg! Zum Transfer der Auflagentechnik von Köln nach Siegburg im 16. Jahrhundert“.

Ab dem 15. Jahrhundert werden vereinzelt Weinbecher mit kleinen Verzierungen versehen. Man legt Tonplättchen auf die Wandung und verziert sie mit einem Blütenstempel. Nachdem sich Anfang des 16. Jahrhunderts in Köln die Steinzeugtöpferei etabliert hat, erwächst den Siegburger Töpfern eine starke Konkurrenz, die technisch viel weiter ist und die begehrten Auftragsarbeiten - einzelne Gefäße, geordert von reichen, meist adligen Interessenten - an sich zieht.

Die Dekore der Kölner Töpfer bestehen vor allem aus großformatigen Auflagen auf hohen Gefäßen, den Schnellen. Der Clou: Für diese bildhaften Reliefdekore beauftragten die Kölner Töpfer Formenschneider. Sie ziehen also die Kunst zurate, um den Absatz zu steigern. Die Herstellungspraxis bleibt zunächst ein Geheimnis, die Siegburger Töpfer müssen dem Kölner Siegeszug hilflos zusehen. 1552 ringt man sich in Siegburg zu der Erlaubnis durch, die begehrten Formenschneider in die Stadt zu holen und als „fremde“ Handwerker in den Werkstätten mitarbeiten zu lassen. Die Schöpfer der Gefäßbilder sind so etwas wie der physisch präsente, kopfballstarke Vollstrecker im aktuellen Weltfußball. Es gibt nur wenige, jedenfalls wenige richtig gute. Und genau deshalb sind sie heiß begehrt. Siehe Haaland.  

Der erste namentlich fassbare Formenschneider in Siegburg ist Franz Track, der mit signierten und datierten Auflagen mehrfach belegt ist. Wie neue Forschungen vermuten lassen, wird er 1558 von dem Töpfermeister Peter Knütgen an die Aulgasse geholt. Knütgen lernt die Technik bei ihm, beherrscht sie als erster Siegburger überhaupt. 

Ein zweiter Transferschub ist 1569/70 fassbar. Anno Knütgen töpfert neue Formen nach Kölner Vorbild und verzierte sie in Relieftechnik mit bis dato in Siegburg unbekannten Motiven, von denen einige nun im Vortag gezeigt wurden. Dies ist möglich, weil der wohl bekannteste Spross der Knütgen-Dynastie den Kölner Formenschneider Laurenz Wolter engagiert. 

Der Namensvetter unseres Stadtgründers ist ein Ehrgeizling durch und durch. Als erster und einziger Töpfer bekleidet Anno Knütgen in Vertretung des Herzogs von Berg das Amt des Untervogts von Siegburg (1564-1581). In dieser Eigenschaft sticht der Lateinschüler und prozessgewandte Mann heraus. Als Töpfer will er es gleich weit bringen. Da sich auf seinen Gefäßen auffällig häufig das Wappen von Berg befindet, ist sein Tun als Versuch zu werten, sich dem Herzog als hauptsächlicher Töpfermeister anzudienen, eine Art früher Hoflieferant zu werden. Hierzu konnte der Vortrag einige Beispiele stützend anführen. 

Mit Anno Knütgen endet der Wissenstransfer. Die Siegburger Töpfer nehmen die Stelle der Kölner Töpfer in der Versorgung der reichen und angesehenen Familien ein, gerade auch im Fernhandel. Sie überholen die Domstädter, sind in Sachen Qualität und Quantität überlegen. 

Exkursion des Geschichts- und Altertumsvereins

Bugatti, Bauhaus und Boheme

Geschichtsverein fasziniert von den 1920ern in der Bundeskunsthalle  - 17. Mai 2023
 

Die 1920er-Jahre in Berlin. Mord und Totschlag. Politik als Straßenkampf. Der Mensch? Gleichzeitig ein Biest und ein hilfloser Wurm, gefangen in eigenen Traumata, getrieben und geschunden von der Hektik und Anonymität der Großstadt. Das alles wurde schon weit vor dem Blockbuster "Babylon Berlin" glänzend in Szene gesetzt. "Berlin Alexanderplatz" heißt das künstlerisch leuchtende und inhaltlich tiefschwarze literarische Zeitporträt von Alfred Döblin. Die Hauptstadt von unten. Ungeschminkt. Bedrückend. Nachwirkend. Überhaupt keine leichte Kost, aber unbedingt empfehlenswert.

Einen Blick auf die Kultur zwischen Weltkrieg und Naziherrschaft warf auch der Geschichtsverein auf seiner Exkursion in die Bonner Bundeskunsthalle am letzten Mittwoch: Frauen tragen Bubikopf, rauchen und fahren Autorennen. In New York wachsen Wolkenkratzer, in Stuttgart-Weißenhof das Bauhaus. Josephine Baker trägt Bananenrock, Fritz Lang erschafft in "Metropolis" die erste KI der Filmgeschichte. 

Die Ausstellung "1920er! Im Kaleidoskop der Moderne" ist eine sehenswerte Schau der Bilder, Fotografien, Kleider, die gerade deshalb nahegeht, weil der schwankende Grund und das Nichtwissen, was die Zukunft bringen mag, eine topaktuelle Gefühlslage trifft. Die Welt veränderte sich rasant (wie heute). Es herrschte ein krasser Gegensatz zwischen Stadt und Land (ähnlich wie heute). Während die Boheme tanzte, starb die Demokratie (hoffentlich nicht wie heute). 

Nach einer Stärkung im Bonner Traditionsgasthaus "Em Höttche", wo schon Beethoven einkehrte, verschlug es die Siegburger Reisegruppe noch weiter in die Vergangenheit. Im LVR-Landesmuseum am Bahnhof setzte man sich archäologisch mit den Vorfahren auseinander. Aus den Beigaben einer bei Wesel erbuddelten fränkischen Grabstelle ließ sich das Leben am Rhein um 600 nach Christus rekonstruieren. "Das Leben des Bodi" ist noch bis zum Sonntag, 15. Oktober, nachzuvollziehen. 

Ach ja: Was die Technik auf dem Feld der Archäologie vermag, zeigt ein Beispiel aus Dänemark, das die LVR-Museumsführerin den Siegburgern nahebrachte. Die Bauarbeiten am Tunnel zwischen den Inseln Fehmarn und Lolland fördern allerlei Relevantes zu Tage. So ein Stück Birkenpech, das mit den Zähnen beackert wurde. An dem Werkstoff der grauen Vorzeit klebte Speichel, also DNA. Die Forscher präsentierten der staunenden Öffentlichkeit ein Steinzeit-Mädchen - dunkle Haut, blaue Augen, Lieblingsspeisen Aal und Ente. Googlen Sie mal Lola aus Lolland. Die Ergebnisse sind beängstigend. Foto: Ein blank polierter Bugatti empfängt in der Bundeskunsthalle. 
 

Exkursion ins Siebengebirge

Warum die Separatisten 1923 scheiterten

Exkursion am 19. April 2023 ins Siebengebirge

Die Nationalsozialisten schlachten sie aus, die Gefechte, die es im November 1923 im Siebengebirge zwischen rheinischen Separatisten und einer lokalen Bürgermiliz gab. Sie sind es, die aus ideologischen Gründen den Begriff der "Schlacht" prägen, bei der angeblich das Deutschtum verteidigt wurde. Auf die Spuren dieser Kämpfe im idyllischen Südteil der (nicht nur) siebenköpfigen Hügelkette begab sich der Siegburger Geschichts- und Altertumsverein. 

Rückblende ins Katastrophenjahr 1923. Ruhrbesetzung, Hyperinflation, Hitlerputsch. Weimar vor der Zerreißprobe. Im Rheinland erhalten die seit Weltkriegsende virulenten Bestrebungen, eigene Sache zu machen und den preußisch dominierten Staat zu verlassen, frische Nahrung. Freundliche Unterstützung erhalten die Anhänger einer rheinischen Republikloslösung von der französischen Besatzungsmacht.

Koblenz ist im Herbst 1923 ein Brennpunkt der Entwicklung. Von dort strömen die Separatisten rechts des Rheins gegen Norden, nehmen Rathäuser ein, hissen ihre Flagge in Grün, Weiß und Rot, den Farben des heutigen Nordrhein-Westfalens. Die Gruppe ist bewaffnet und motorisiert, doch ihre Organisation lässt zu wünschen übrig. Viel Spontanität, wenig Planung. Hauptprobleme sind fehlende Bezahlung und Hunger. 

Die Männer nehmen sich, was sie brauchen. Sie fangen an zu plündern. Schon in Rheinbreitbach gibt es Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung. Beim Weg zu den vermutet randvollen Speichern und Scheunen im Siebengebirge verschärft sich die Situation. Die Bauern bilden ihrerseits Einheiten zur Abwehr. Wahrscheinlich mit Wurst und Käse als Lockmittel ziehen sie erfahrene Frontkämpfer aus dem Ersten Weltkrieg hinzu. Die heben Gräben aus, ganz so wie wenige Jahre zuvor in Ypern oder Verdun. Die Separatisten laufen oberhalb des Schmelztals geradewegs ins Feuer aus Gewehren, die seit 1918 gut versteckt auf ihren Einsatz warteten. Schrecklich: In blinder Wut jagt die Landbevölkerung den versprengten Separatisten nach, es kommt zu Lynchmorden. Die örtlichen Behörden tun alles, um die Bluttaten unter dem Teppich zu halten. 

Zurück in die Gegenwart. Mit dem exzellenten Siebengebirgskenner Elmar Scheuren fuhr der Geschichtsverein Stätten des Geschehens und Erinnerungsorte an. Die Kapelle im Zentrum von Rheinbreitbach. Oder den Aussichtpunkt Himmerich, an dem der erste NS-Bürgermeister von Bad Honnef einen Kult etablieren wollte (großes Foto). Zum Glück blieb er erfolglos. Schließlich besah man sich das schlichte Kreuz auf dem Friedhof in Aegiedienberg (kleines Foto), das an die 14 getöteten Separatisten erinnert. Es trägt keine Namen.

Auferstanden aus Ruinen

Im neuen Kölner Stadtarchiv am 8. März 2023

Der Einsturz des Stadtarchivs am 3. März 2009 hat sich ins kollektive Gedächtnis Kölns eingebrannt. Zwei Menschen starben, Millionen Blatt Papier, zum Teil tausend Jahre alt, wurden verschüttet. Eine beispiellose Rettungsaktion lief an. Sogenannte Asylarchive vom hohen Norden bis in den tiefen Süden gaben den Zeugnissen der stolzen domstädtischen Geschichte ein Obdach. Sogar im Feindesland klopfte man an. Das Düsseldorfer Landesarchiv hatte noch ein Plätzchen frei.

Eine gute Nachricht kam den knapp vier Dutzend Mitgliedern des Siegburger Geschichtsvereins, die am Mittwoch bei Schnee und Eis den Archivneubau an der Ecke Luxemburger Straße/Eifelwall besuchten, gleich bei ihrer Ankunft zu Ohren: 95 Prozent des bei der Tragödie verschütteten Guts konnte geborgen werden. 28 Restauratorinnen und Restauratoren sowie 44 Hilfskräfte sind in zehn Werkstatträumen mit dem Reinigen und Aneinanderfügen beschäftigt. Bei schweren Beschädigungen hilft modernste Technik des Fraunhofer-Instituts. Anhand der Rissformen erkennt die Software Zusammengehörigkeiten. Hier puzzelt künstliche Intelligenz! Nach 14 Jahren liegt der Wiederherstellungsgrad bei 14 Prozent. "Ich werde die Komplettierung nicht mehr erleben", ist sich die durch Gänge und Flure führende Diplomarchivarin sicher. Sie ist kaum 30 Jahre alt. 

Das neue Archiv, entworfen vom Büro Waechter und Waechter aus Darmstadt, ist absolut auf der Höhe der Zeit. Herzstück ist das "Schatzhaus", wie das siebenstöckige Magazin liebevoll genannt wird. Es umfasst neun Klimazonen zwischen minus 22 und plus 24 Grad, je nach Lagerinhalt und Lagerzweck.

Von der Schrift zur Fotografie: 500.000 Aufnahmengehören zum angegliederten Rheinischen Bildarchiv. Sogar ein eigener Ausstellungsbereich wurde eingeplant, in welchem Präsentationen zur Stadtgeschichte die Gäste locken. "Colonian Rhapsody" ist der klingende Titel der aktuellen Schau, die ein Schlaglicht wirft auf Köln als Musikstadt seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Benutzerbereich ist großzügig und offen gestaltet. Allerdings kann es dauern, bis Bürgeranfragen zur Einsichtnahme positiv beschieden werden können und man mit dem gewünschten Aktenkonvolut an einem der Tische sitzt. Die dramatischen Geschehnisse des Jahres 2009 und die Aufarbeitung der Einsturzschäden haben Wartezeiten von bis zu einem Jahr zur Folge. 

Für Besuchergruppen hat das Kölner Stadtarchiv einen Showroom eingerichtet, in dem Kostbarkeiten exemplarisch auf den Präsentierteller gelegt werden. Die Siegburger bestaunten ein Bilderalbum aus dem privaten Nachlass von Willy Millowitsch, einen Bauplan aus preußischer und Geburtsurkunden aus napoleonischer Zeit. Die Archivarin zeigte bedeutungsschwer auf ein mittelalterliches, gesiegeltes Schriftstück. Eine von 65.000 gut gehüteten Urkunden: "Sie ist ausgestellt von Anno II. von Köln. Wie Sie vielleicht wissen, war das ein mächtiger Erzbischof des Hochmittelalters." Gekicher in der Zuhörerschaft, Gemurmel. Die Archivarin guckte irritiert. "Sie kennen Anno?" Prompte Antwort: "Den eigenen Stadtgründer sollten man kennen."

 

Geschichts- und Altertumsverein

Siegburg nach der Säkularisation 1803

Siegburg nach der Säkularisation 1803 - Museumsgespräch am 24. Februar 2023

Wenn die Berg ruft, kommen die Siegburger. Die Zeitenwende der Säkularisation 1803 wurde im letzten Museumsgespräch thematisiert. Die Resonanz war mit etwas mehr als zwei Dutzend Zuhören für einen historischen Vortrag am frühen Donnerstagabend erfreulich. 

Referent Dr. Mike Kunze, Geschichtslehrer aus Meerbusch, hat sich intensiv mit dem Prozess der Umwandlung von geistigen in weltlichen Besitz rund um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beschäftigt. Für seine in der Pandemie fertiggestellte Doktorarbeit „Säkularisation im Herzogtum Berg“ las er schätzungsweise 110.000 Seiten zeitgenössischer Handschrift. Die Dissertation wiegt fünfeinhalb Kilogramm bei hauchzarter Papierstärke und wurde ob dieses gewaltigen Umfangs im Netz veröffentlicht. 

Was passierte mit den Siegburger Konvent, als seine Zeit gekommen war? Einige Bewohner der adligen Luxusresidenz – geistliches Leben war längst erloschen, die Verschuldung immens, das Treiben auf dem Michaelsberg glich dem eines exklusiven Seniorenstifts mit sehr jungen Senioren, die sich mehr am Billardtisch als im Betraum trafen – gingen zurück zu ihren Familien ins Süddeutsche. 

Abt Johannes von Speyart zu Woerden machte noch bis 1807 weiter. Als Pächter. Er bewirtete den zunächst weiter zum Annograb ziehenden Pilgerstrom. Nicht der einzige Versuch, sich privatwirtschaftlich zu verwirklichen. Aus dem Gartenhaus wurde eine Baumschule. Während das Gros der in der Abtei Tätigen, nämlich die bis zu 60 Bediensteten, einer ungewiss-ärmlichen Zukunft entgegensahen, ermöglichten die Renten, die den zuletzt 13 blaublütigen Konventualen nach der Klosterauflösung zustanden, ein Mindestmaß an Restopulenz.
Kunze trug frei und anschaulich vor, beschrieb, wie Mitglieder der abgeschotteten Berg-Community schon vor dem Reichsdeputationshauptschluss an den Landesherrn schrieben, man möge doch das Kloster aufheben. Vom erbosten Abt als „Schwindelgeistige“ titulierte, waren die Säkularisationsfreunde wohl von der Aufklärung beseelt und hielten ihre Wohngemeinschaft für altbacken. 

Wo wir bei einem neuen Weltdenken sind: Den Franzosen, die im Gefolge der Revolution und ihrer kriegerischen Expansion ein neues Gedankengut über ihre europäischen Nachbarn ausschütteten, ist die Säkularisation nicht unmittelbar zuzurechnen. Die deutschen Fürsten waren es, die nach den Besitztümern der Gottesvertreter griffen. Bayern konnte sich beispielsweise um fast ein Drittel vergrößern, weil es sich einen ganzen Archipel vormals eigenständiger Inseln einverleibte.
 

 

Ein Schlaglicht auf die Schlaghose

Museumsgespräch am 15. Dezember 2022: 60 Jahre Realschule

Weit vor PISA, vielleicht die Mutter aller Bildungsschocks: Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schlägt der Forscher Georg Picht in seiner Studie "Die deutsche Bildungskatastrophe" Alarm. Unterentwickelt ist das höhere deutsche Schulwesen. Gerade einmal 24 Prozent schaffen es in Schleswig-Holstein zur Mittleren Reife. Damit ist der Norden bundesdeutsche "Spitze", wenn man denn von Spitze reden will. In NRW sind es nur 11,5 Prozent!

Sein Museumsgespräch am Donnerstagabend mit dem Titel "60 Jahre Realschule" eröffnete Stadtarchivar Jan Gerull mit diesen eindrücklichen Zahlen. Im Siegkreis zeigt sich das deutsche Bildungsfiasko besonders deutlich: 1960 besuchen von 100 Schülerinnen und Schülern eines Jahrgangs 82,71 Prozent die achtklassige Volksschule, 12,51 Prozent das Gymnasium, nur 4,78 Prozent die Realschule. 

1962 geht in Siegburg die Realschule an den Start. Ihr Schicksal wird mit dem Jungengymnasium verknüpft. Wenn das Gymnasium aus den beengten Verhältnissen an der Humperdinckstraße 27 (heute VHS-Studienhaus) in einen Neubau zieht, kann die Realschule diesen innerstädtischen Standort übernehmen, quasi als Nachmieter. Anfangs dachte man, nur vier bis fünf Jahre in Interimslösungen verweilen zu müssen, bis im Jungengymnasium der Platz frei wird. Daraus werden fast anderthalb Jahrzehnte der Wanderschaft. Man beginnt nach Ostern 1962 mit zwei Klassen in der Evangelischen Volksschule Humperdinckstraße ("Humperdinckschule"), nimmt nachfolgend alle zentrumsnahen Schulbauten in Beschlag. Innere Stadt und Alleestraße, Berufsschule in der Zeughausstraße, das evangelische Gemeindehaus in der Annostraße, am Tierbungert aufgestellte Pavillons und Büroräume des Warenhauses "Co-Center" am Zanger Siegdamm sind Ende der 60er und Anfang der 70er Lernorte. Beim Umzug ins angesprochene Jungengymnasium, welches 1971 endlich frei wird, helfen belgische und deutsche Soldaten in einem gemeinsamen Einsatz. Schulleiter Otto Treptow scheint gute Connections in die Truppe(n) zu haben. 

Parallel wird umgeplant. Ein eigenes Gebäude am brachliegenden, leicht sumpfigen Neuenhof soll die Realschule erhalten. Nach der Schulreform von 1968, die die Volksschule in eine Grund- und eine Hauptschule trennt, kommt es zur Planänderung: Die Hauptschule am Seidenberg geht mit in den Komplex, ein Schulzentrum wächst. Oben ein Foto von der schlaghosigen Einweihung 1976. 

In den Jubel um das erfolgreiche Großprojekt mischt sich schnell Ernüchterung. "Kaum eröffnet, schon zu klein" - so oder so ähnlich lauten die Überschriften in den Zeitungen. Die Ausmaße sind gewaltig. 1.100 Schülerinnen und Schüler besuchen 1977/78 allein die Realschule. Erst als Lohmar und St. Augustin eigene Einrichtungen gründen, entspannt sich die Situation. 

Nach Beendigung des historischen Vortrags geriet das Museumsgespräch im Museumsforum zum Klassentreffen. Ein Premierenrealschüler, Altbürgermeister Franz Huhn, erinnerte sich an die Aufnahmeprüfung, die sein gleichnamiger Vetter und er bestehen mussten und die die ganze Familie in helle Aufregung versetzte. Hermann Becher, Rektor von 1978 bis 2000, sprach von den anfänglichen pädagogisch-organisatorischen Herausforderungen an der neuen XL-Bildungsstätte. 

Das Jubiläum 60+1 feiert die Realschule am 28. April 2023 im Rhein Sieg Forum.

Wo Karl überall ist

Im Dom, auf dem obligaten Printenpapier, in den Schaufenstern, sogar auf den Stromkästen als Reviermarkierung der Karlsbande, der Ultragruppierung der Alemannia-Fans: In Aachen begegnet man dem Kaiser, den man den Großen nennt, auf Schritt und Tritt. Der Siegburger Geschichts- und Altertumsverein besuchte auf seiner Jahresabschlussfahrt das Center Charlemagne, das Kaiser-Karl-Forum.

Aachen befindet sich in Deutschlands westlichstem Zipfel. Kein Außenposten, der Nabel der Welt, zumindest für den "Öcher". Hier ist man Euregio, hier meint ein jeder Zweite vom berühmten Karl abzustammen, der zwei Dutzend Kinder in die Welt setzte. Zuletzt ließ diesbezüglich der Stammbaumfall Laschet aufhorchen. Und schmunzeln. Laut Mönch Einhard, Schreiber der Karls-Biografie, war der langmähnige Franke sieben Fuß hoch. Wenn ein Fuß damals 30 Zentimeter hatte, kommen wir auf eine lichte Höhe von zwei Metern und zehn Zentimetern. Aber beschäftigen wir uns nicht mit Äußerlichkeiten ...

Mit Karl war es wie mit anderen Großen der Weltgeschichte. Sie wurden mystifiziert, sie tauchen in unterschiedlichstem Gewand auf, auch wenn sie das Gewand nie getragen haben. Unbestritten ist sein Einfluss auf unsere Schrift. Die karolingische Minuskel kann selbst der Laie in Teilen entziffern, obschon sie 1.200 Jahre auf dem Buckel hat! 

Über anderen Stationen seines Lebens und Wirkens liegt dichter Nebel. Schon Karls Geburtsort gibt Anlass zur Diskussion. Für die Franzosen ist er in Saint Denis geboren, für die Belgier in Herstal, das LVR Portal für rheinische Geschichte zieht Düren in Erwägung. Damit wäre wahrscheinlich auch der bekannteste Dürener, ein Torwächter mit Spitznamen "Tünn", ein Nachfahre. Betrachtet man die Länge von Körper und Haupthaar, erscheint ein Verwandtschaftsverhältnis hier zumindest nicht abwegig.

Was feststeht: Aachen ist die Stadt der heißen Quellen. Schon die Römer - die Stadtgründung erfolgte unter Kaiser Augustus - kamen aus dem ganzen Rheinland zur Wellness an den Lousberg. Die Gruppe des Geschichtsvereins ließ nach dem Museumsgang das Schwefelwasser links liegen und vertraute einer altbekannten Anwendung gegen beißende Kälte: Roter Wein mit Zimt, Nelken und Sternanis, dargereicht in glühender Form auf dem Weihnachtsmarkt.

Fotos: Links die Führung durch das Centre Charlemagne, das Kaiser-Karl-Forum. Rechts der Weihnachtsmarkt am Dom. 

Ein Abend für Rüth Rehmann

Lesung am 24. November 2022

Lübeck hat das Buddenbrookhaus. Der Trier-Tourismus schlägt Kapital daraus, im häuslichen Umfeld des jungen Karl Marx stöbern zu können. Die möglicherweise größte Literatin aus Siegburg hätte zumindest eine Plakette am Elternhaus verdient. Doch das Gebäude auf dem Henrichgelände, in dem Ruth Rehmann (1922-2016) ihre Kindheit verbrachte, steht nicht mehr. 2006 wurde das einstige evangelische Pfarrhaus in der Wilhelmstraße 65 abgerissen. Eigentlich stand das 140 Jahre alte Gemäuer unter Denkmalschutz, doch attestierten Fachleute fehlende Standsicherheit und besiegelten das Aus

Ruth Rehmann war nicht irgendeine Schriftstellerin. Sie trug der Gruppe 47 aus ihrem Werk vor und traf den Geschmack der hier versammelten Geisteselite. Bei aller Qualität ihres Werks - das ganz große Publikum fand sie nie. Michael Krüger, über Jahrzehnte Kopf des renommierten Hanserverlags und eines der Schwergewichte im Literaturbetrieb der Bundesrepublik, bezeichnet die Pastorentochter passend als die "unbekannteste der bekannten deutschen Autoren".

Den Bekanntheitsgrad zu steigern, das versuchte in der letzten Woche der Geschichtsverein in Kooperation mit dem Buchhändler und Verleger Paul Remmel und der evangelischen Gemeinde. Zusammen lud man in die Auferstehungskirche, um Rehmanns Siegburg-Roman "Der Mann auf der Kanzel - Erinnerung an einen Vater" die Ehre zu erweisen.

Remmel meets Rehmann

Das Leben des verstorbenen Vaters zu einem Roman zu verarbeiten, ohne es kitschig-sentimental werden zu lassen, ohne dass das Buch zum Plädoyer für oder zur Anklageschrift gegen den Erzeuger gerät, ist der Ritt auf der viel zitierten Rasierklinge.

In ihrem 1979 erschienenen Roman "Der Mann auf der Kanzel - Erinnerungen an einen Vater" hat Ruth Rehmann diese Gratwanderung erfolgreich absolviert, wie Buchhändler und Verleger Paul Remmel den rund 40 versammelten Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Lesung in der Auferstehungskirche einleitend an die Hand gab.

Die Erzählung kreist um August Hermann Rehmann, evangelischer Pfarrer in Siegburg von 1918 bis 1940, und seine Tochter, hinter der sich die Schriftstellerin verbirgt.

Remmel trug vor aus diversen Textstellen, stieg ein mit dem an der Hand des Vaters über die Kaiserstraße hüpfenden Mädchen - kindlicher Übermut paart sich mit dem im Pastorenhaushalt allzeit vorgelebten Maß an sittsamer Vorbildlichkeit. Der Herr Papa ist ein Seelsorger im besten Sinne, der die Topografien der Seelen seiner Gemeinde kennt wie die eigene Westentasche. Er empfängt den von der Farben-Fabrik gefeuerten "Proleten", der nachts um drei mit betrunkener Zorneswut vor der Türe steht und um Hilfe bittet. Er pflegt einen mokanten Umgang mit der großbürgerlichen Elite, die ihn zum mehrgängigen Menü in die Villa einlädt und die er nach dem Kaffee um erhebliche Spendensummen erleichtert.

Der Vater ist Militärpfarrer im Ersten Weltkrieg, danach, in der Weimarer Republik, noch immer der für ihn "guten alten Zeit" treu. Dem Kaiser sendet er jährlich Geburtstagsgrüße ins holländische Exil. Die politischen Grabenkämpfe des ersten deutschen Demokratieversuchs sind ihm zutiefst suspekt. Als die Nationalsozialisten marschieren, hält er die Gemeinde auf neutralem Kurs, navigiert sie zwischen den linientreuen Deutschen Christen und den Oppositionellen der Bekennenden Kirche. Auch aufgrund dieser Strapazen ist ihm nur ein kurzer Ruhestand beschieden. Rund um den Umzug zum Altersruhesitz in der Bonner Südstadt erkrankt er schwer.

Herzzerreißend schildert Rehmann das letzte Gespräch zwischen Vater und Tochter auf einer Bank am Rheinufer. Nachdenklich und still ist der frühere Daueroptimist und Tröster in der Not geworden. Er fühlt den Tod nahen und sich selbst von seinen Mitmenschen verlassen. Sie, das 18-jährige Nesthäkchen der Familie, ist mit den Gedanken bei einem Date in der Bonner Gronau, das zu platzen droht. Sie heuchelt Interesse, steckt den Alten, als es ihr zu lange dauert, in ein Taxi und schickt ihn nach Hause, um zum verabredeten Treffpunkt zu rennen: Der Schwarm ist längst weg, die Möglichkeit zur Aufmunterung und Verabschiedung des Vaters ein für alle Mal verpasst.

Nach Remmels Vortrag, den Bilder der Zeit aus dem Stadtarchiv begleiteten, meldeten sich zwei Männer aus der Kirchenbank zu Wort. Der eine gibt an, von Pfarrer Rehmann getauft worden zu sein. Nicht von August Herrmann Rehmann, der Hauptfigur des Romans, sondern von dessen Sohn, der lange Pastor war in Ruppichteroth. Der andere Aufzeigende ist Dr. Holger Weitenhagen. Der Pfarrer im Ruhestand hat zur lokalen Kirchengeschichte in der NS-Zeit publiziert und möchte eine Lanze brechen für diejenigen Berufsgenossen, die im Dritten Reich einen dritten Weg der Unabhängigkeit jenseits der genannten Hauptströmungen innerhalb der evangelischen Kirche suchten.

Der "Mann auf der Kanzel" ist leider nur noch antiquarisch aufzutun, im Netz allerdings ohne allzu großen Aufwand. Foto: Vorleser Paul Remmel in der adventlich geschmückten Auferstehungskirche.

Geschichte der Siegburger Synagoge

Synagoge Wegelin

Museumsgespräch am 10. November 2022

50 Zuhörerinnen und Zuhörer lauschten dem Museumsgespräch über die Siegburger Synagoge. Das freute die Referentin, Kreisarchivarin Dr. Claudia Maria Arndt. Das freute auch die veranstalteten Institutionen, das Stadtmuseum und den Geschichtsverein, die nicht ohne Grund für den 10. November eingeladen hatten. Am 10. November 1938, frühmorgens um 5 Uhr, brannte die Synagoge aus. 

Claudia Arndt beschrieb folgenden Prozess in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Der Betraum für die jüdische Gemeinde, wohl ein Anbau an die Holzgasse 10, bietet den Gläubigen kaum mehr genug Platz. Rund 100 Personen umfasst die Gemeinschaft, zur Teilnahme an der Liturgie strömen auch Juden aus Troisdorf und Lohmar ins Siegburger Zentrum. Das hat den Effekt, dass die Versammelten sich "wie Bücklinge", so zeitgenössische Quellen, zusammenquetschen müssen. Die Verhältnisse sind derart beengt, dass der Kreisphysikus den Zeigfinger hebt, vor krankheitserregenden Ausdünstungen warnt. 

1841 wird auf maßgebliches Betreiben des Gemeindevorstehers Isaac Abraham, der sich wenig später Isaac Bürger (Namenspate der Straße auf der Zange) nennen sollte, die weitaus stattlichere Siegburger Synagoge errichtet. Sie ist in ein paar Schritten über einen schmalen Zuweg von der Holzgasse zugänglich, vereint den romanischen und den orientalischen Baustil. Unter dem breiten Satteldach fallen die ausgeprägten Rundbogenfenster ins Auge, deren gefärbtes Glas dem Innenraum einen konstanten Blaustich verleihen. Die Synagoge passt sich in der Höhe der Umgebungsbebauung an. 

Prunkvoll-feierlich die Einweihung am 22. Oktober 1841. Landrat und Bürgermeister sowie Honoratioren der Stadtgesellschaft folgen dem Bonner Oberrabbiner Dr. Aaron Auerbach und den sage und schreibe sieben Thorarollen, die in einer von Salutböllern begleiteten Prozession über den Markt in den Neubau getragen werden. Wenn es noch eines zusätzlichen Beweises für den hohen Grad der jüdischen Anpassung und Integration brauchte: Gepredigt wird an diesem Festtag in deutscher Sprache. Die Juden sind in der Folge mehrheitlich bemüht, die besseren Deutschen zu sein, um jeden Argwohn zu zerstreuen. Bei Weltkriegsbeginn 1914 unterstreichen sie mit Sondergottesdiensten ihren Patriotismus 

Gänzlich entgegengesetzt zum Eröffnungsjubel 1841 die Situation in der Pogromnacht 97 Jahre später. Die SA bildet an jenem Morgen des 11. November 1938 eine Kette um die zuvor angesteckte Synagoge, hindert die Feuerwehr daran, einzugreifen. Pfuirufe soll es von überraschten und erzürnten Siegburgern in Richtung der braunen Schergen gegeben haben. Anderseits ist überliefert, dass der Lehrer einer nahen Schule einen spontanen Ausflug anberaumt, um seiner Klasse stolz die antisemitische Untat zu präsentieren. 

Bürgermeister Eickhoff setzt im nächsten halben Jahr alles daran, das Areal der Ruine zum Parkplatz für Automobile zu machen. Der Rat nickt das Vorhaben im Juni 1939 ab. Es kommt, wie es kommen muss: Der ausgehandelte Kaufpreis liegt weit unter der noch auf dem Grundstück lastenden Schuld. Die Stadt erhält den gewünschten Parkplatz, um es sarkastisch zu sagen, "kostenneutral".

Bild: Das Siegburg-Gemälde von Alfred Wegelin aus dem Jahr 1845 zeigt die Synagoge als zentrales Gebäude in der Seitenansicht, Bildmitte.

Roms Untergang in Trier

GAV - Trier

Ausstellungen in Augusta Treverorum am 18. September

Versprengte Legionäre, manche mit einem guten Schoppen in der Hand, laufen in loser Folge durch die Innenstadt. Sind wir in Köln, wo von jeher jeder Jeck anders kostümiert sein darf? Falsch geraten. Wir befinden uns in Trier, wo die Römer-Verkleidung zum Touristenbelustigungsstandard gehört wie der am Moselufer ausgeschenkte Weißwein.

Der Siegburger Geschichts- und Altertumsverein ließ am Sonntag das unter freiem Himmel veranstaltete Römerspektakel links liegen. Man hielt Ausschau nach Inhalten, konkret: nach den Gründen für den Untergang des Römischen Reichs im vierten und fünften Jahrhundert nach Christus. Als die Besucher hochkarätige Ausstellungen im Landes- und im Stadtmuseum von Augusta Treverorum gesehen hatten, setzte sich folgender Eindruck fest: Die beiden Hauptgründe für den Exitus Roms, die man in der Schule gebetsmühlenartig eingetrichtert bekam, sind nicht falsch, reichen als Erklärung aber bei weiten nicht aus. 

Die Einfälle der Barbaren in der Völkerwanderung und die "spätrömische Dekadenz" gab es. Aber es gab noch weit mehr. Geschichte ist nicht A plus B gleich C. Aufstieg der Heermeister und Warlords, schwindende Autorität von grenzdebilen oder blutjungen Kaisern, Kämpfe im Inneren und mit äußeren Feinden, Naturkatastrophen und Seuchen, Rivalität zwischen Ost- und Westrom - alles sollte berücksichtigt werden. 

Exkurs zum problematischen Begriff Völkerwanderung. "Volk" suggeriert Einheitlichkeit von Sprache, Regeln und Normen, eine Einheit, die sich aufmacht, das Weltreich zu überrennen. In Wirklichkeit handelt es sich um versprengte Trupps in ständig wechselnder ethnischer Besetzung. Menschen werden von anderen Menschen mitgerissen, brechen aus, schließen sich neuen, stärkeren Anführern an. Ein Zeitalter dynamischer Migration. 

Manchen dieser "Völker" haftet ein Negativimage an, das sich beim näheren Herantreten in Luft auflöst. Unter den Vandalen blühte Nordafrika auf. Die Kornkammer war jahrhundertelang von Rom ausgepresst worden, nun konnten Produzenten marktübliche Preise für ihr Getreide verlangen. Der Wohlstand wuchs. 

Foto: Stopp an der Porta Nigra zwischen zwei Museumsbesuchen. 

GAV erinnerte an Deportationen 1942

Lesung GAV

80 Jahre Deportation - Rundgang und Lesung in Siegburg

Doppelter Einsatz für den Geschichts- und Altertumsverein (GAV), dessen Exkursionsmittwoch ganz im Zeichen eines traurigen Jubiläums stand. Vor 80 Jahren, Ende Juli 1942, war die Stadt "judenfrei". Die mordlüsternen Rasse-Ideologen hatte ganze Arbeit getan. In zwei Veranstaltungen hielt man die Erinnerung wach.

Am Vormittag führten die Vorstandsmitglieder Claudia Arndt und Jan Gerull entlang der Siegburger Stolpersteine, stellten ausgewählte Mitglieder der einst blühenden jüdischen Gemeinde vor. Berührend ist der Fall des Kindes Rolf Nathan. Sein "Bodendenkmal" liegt unscheinbar zwischen Haupt- und Lieferanteneingang des Krankenhauses, Ringstraße 49. Rolf Nathan kommt am 24. November 1937 im Siegburger Hospital zur Welt. Die Eltern Walter und Ilse leben in Ruppichteroth. Nach dem Bericht eines Zeitzeugen schreit das Baby Rolf schrill und ausdauernd, "lauter als eine Trillerpfeife am Bahnhof". In ruhigen Phasen deutet sein anhaltend apathisches Verhalten auf eine geistige Behinderung hin.

1939 ist ein entscheidendes Jahr für die Familie. Kurz nach der Geburt von Tochter Chana emigriert der Vater allein nach Palästina, um dort ein neues Leben aufzubauen und seine Angehörigen nachzuholen. Um Rolf kümmern sich fortan die Mitarbeiterinnen im jüdischen Kinderheim in der Kölner Lützowstraße. Ilse und Chana Nathan werden Ende 1941 ins Rigaer Ghetto gebracht. Dort stirbt die Zweijährige. Die Mutter verliert kurze Zeit später im KZ Stutthof bei Danzig das Leben.

Im Juli 1942 wird das Kölner Kinderheim aufgelöst. Rolf und seine Spielgefährten deportiert man nach Minsk und ermordet sie im nahen Blagowschtschina/Maly Trostinez.
Auch der Nachmittag widmete sich zu großen Teilen dem jüdischen Oberthema. Im Stadtmuseum drehte sich das Gespräch um den Buchband "Indoktrination. Unterwerfung. Verfolgung", der Aspekte der NS-Herrschaft in den Kreisen Oberberg, Rhein-Berg und Rhein-Sieg beleuchtet. Gerd Streichardt, Lohmarer Heimatforscher-Urgestein und Autor, umriss in groben Zügen die Rettungsgeschichte der Troisdorfer Fotografen-Familie Bernauer aus dem Zwischenlager Müngersdorf, die zustande kam, weil es Menschen gab, die Moral und Mut nicht verloren hatten. 

Kreisarchivarin Arndt ging ein auf das Leben der Rosbacher Familie Seligmann zwischen Deutschland, Argentinien und wieder Deutschland. Die Emigranten kehrten zurück ins Land der Täter. Stadtarchivar Jan Gerull rückte Siegburgs ersten NS-Bürgermeister Wilhelm Ley in den Mittelpunkt, einen ausgemachten Antisemiten, der in den 15 Monaten seiner Amtszeit Boykottaktion organisierte und Siegburgern jüdischen Glaubens bis ins Ausland nachspionierte, um ihnen zu schaden. Foto: Vortrag von Gerd Streichardt in der gut besetzten Museumsaula. 

Die Doppelliebe des Dieter Nuhr

GAV - Düsseldorf

Dieter-Nuhr-Ausstellung am 17. Mai 2022

Man kennt ihn als satirischen Wortakrobaten, der keine Furcht hat, dem Mainstream davonzulaufen. Der Kabarettist Dieter Nuhr hat noch eine zweite, der Öffentlichkeit weitgehend verborgene Seite. Er studierte an der Folkwangschule und betätigt sich bis heute als bildender Künstler. Außerdem steuert er als wissbegieriger Urlauber regelmäßig außergewöhnliche Plätze der Erde an. In der Pandemie kam ihm einerseits die Bühne abhanden, andererseits blieben die geliebten Touren um die Welt aus. Nuhr entdeckte eine neue Leidenschaft: den Ton und seine Verarbeitung. Das Hetjensmuseum seiner Düsseldorfer Heimat zog ihn an. Im Museumsbestand spiegeln sich, so merkte er, die im Kopf und auf dem Speicherchip der Kamera festgehaltenen Bildwelten der von ihm besuchten Länder. So ist die sehenswerte Ausstellung "Dieter Nuhr: Reisezeit - Zeitreisen" entstanden, die der Siegburger Geschichts- und Altertumsverein (GAV) am Mittwoch besuchte. Die Schau zeigt künstlerisch verarbeitete Fotografien ausgewählter Keramiken gemeinsam mit Aufnahmen ihrer Herkunftsorte, die der 61-Jährige ebenfalls am Computer bearbeitete. Den Betrachter verschlägt es von Patagonien nach Nordkorea, von Mexiko nach Südostasien. Ganz nebenbei eilt er durch fast 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte. 

Die Exkursionsgruppe nutzte die Stippvisite ins bekannte Keramikmuseum auch, um nach heimischen Siegburger Krug-Kreationen Ausschau zu halten. Im Alt-Brauhaus "Zum Schiffchen" wurde das gekostet, was man in D'dorf Bier nennt. En passant konnten die Besucher mit dem Vorurteil aufräumen, in der Landeshauptstadt trage man die Nase höher als anderswo. Die Nasen der Brauhausmitarbeiter gehen täglich nach unten, um einem in schöner Regelmäßigkeit vorbeiwatschelnden Entenpaar Leckerchen zukommen zu lassen. Es menschelte heftig in tierlieber Aufgeschlossenheit. Mitten in Düsseldorf. GAV-Schriftführerin Susanne Lo Bartolo schoss das Beweisfoto. 

Die nächste Aktion des Geschichtsvereins führt vor die Haustür. Am Mittwoch, 13. Juli, wird im Stadtmuseum ein neues Buch zur Aufarbeitung der NS-Geschichte in der Region mit dem Titel "Indoktrination. Unterwerfung. Verfolgung" vorgestellt. Vorgeschaltet ist - genau 80 Jahre nach der Deportation der letzten Juden aus der Kreisstadt - ein Stadtrundgang auf jüdischen Spuren.

Großthementag in Rheinbach und Siegburg

GAV

"Vier gewinnt" am 9. März 2022

 

Die Bedrohungen des Klimawandels. Eine Pipeline und ihr Ende. Migration des Wissens durch Flüchtlinge. Und schließlich die Arbeitswelt zwischen analogem Datenberg und digitaler Datensammlung. Da sage einer, die Themen, die der Geschichts- und Altertumsverein (GAV) auf seiner Exkursion am Mittwoch streifte, seien unerheblich, weil von gestern.
Es ging zunächst nach Rheinbach, wo Stadtarchivar Dietmar Pertz von den Schäden der Flut am 14./15. Juli 2021 berichtete. 1.600 Akten erwischten die reißenden Wasser, 800 waren nicht mehr zu retten. 500 waren klamm, aber in der Sonne trockenbar. 250 Schriftstücke umwickelte er und schickte sie zur Gefriertrocknung in ein Troisdorfer Kältelager.

 

Weiter ging es ins Römerkanalinfozentrum, den erst drei Jahre alten Museumsneuling in der Voreifelstadt. In einer 95 Kilometer langen Leitung führten die Herrscher das Lebensmittel von Nettersheim in der Eifel nach Colonia am Rhein, ein Höhepunkt antiker Ingenieurskunst. Natürliches Gefälle nutzend, verlief der Bau im Zickzack nach Nordosten. Verarbeitet wurde eine frühe Form des Zements. 20 Millionen Liter Wasser erreichten in den ersten beiden Jahrhunderten nach Beginn unserer Zeitrechnung die stark wachsende Stadt. Täglich! Die Franken, die im dritten Jahrhundert die Legionäre überrannten, hatten für die Errungenschaft der Zivilisation keinen Gebrauch. Der Römerkanal lieferte nicht mehr, verfiel. An dem Beispiel lässt sich glänzend exerzieren, warum das Mittelalter bis heute mit der Zuschreibung "dunkel" leben muss.

Nächster Haltepunkt für die Gruppe war das Glasmuseum. Wer denkt, das Glas gehöre zur Rheinbacher Historie wie der Ton zu Siegburg, der liegt daneben. Rund 250 sudetendeutsche Vertriebenen aus Nordböhmen brachten nach 1945 ihr Kunsthandwerk mit. In der Folge wuchsen kleine und große Betriebe - plus eine Fachschule von internationalem Ruf. Der Geschichtsverein wandelte unter einem Lüster, besah sich Wald- und Wiesenmotive, aber auch erotisch-freizügige Gravuren, die man im Barock liebte.
Endpunkt der Fahrt war das Siegburger Stadtarchivinterim im Haufeld. Archivkraft Jenny Ley stellte in einem Bildvortrag die Tierchen vor, die Papier zum Fressen gern haben, konnte aber gleichzeitig beruhigen: Die Schädlingsfauna stellt bislang keine ernsthafte Gefahr für das Stadtgedächtnis dar, eher schon reguläre Alterungsprozesse, beschleunigt durch ehemals unsachgemäße Lagerung im Rathauskeller. Ihnen begegnet das Archiv mit Maßnahmen der Entsäuerung und Säuberung. Für die Prozesse der Digitalisierung, so lernten die Besucher, ist ein einwandfreier Papierzustand unentbehrlich.

Die Fotos im Uhrzeigersinn von oben links: Flutreportage vom Rheinbacher Archivar Dietmar Pertz, Führungen zum Römerkanal und zur Glaskunst, Vortrag im Siegburger Stadtarchiv von Jenny Ley.

 

Geist der Weihnacht im Bergischen Land

Lesung GAV

15. Dezember 2021 - Lesung über Zoom

Heiligabend 1944, ein Bauernhaus im Bergischen Land. Die, die im Warmen sitzen, halten Ausschau nach einem Gefangenen auf Freigang. Sein Schicksal hat ihr Herz erweicht. Er kommt als Bettler. Immer wieder steht er da und hält stumm die Hand auf. Die Familie hat Streuselkuchen für ihn. Er soll etwas abbekommen vom Festtagsessen.

Der Russe lässt auf sich warten. Andere, die mit ihm von der Wehrmacht verschleppt wurden und nun auf den Feldern der Deutschen schuften, sind vor ihm da. Hastig stecken sie den Kuchen in die Taschen ihrer zerschlissenen Kleidung und sind weg. Wenn sie ihre einfachen Wellblechhütten erreichen, fehlt von den Schweineschmalzstreuseln jede Spur. Hunger kennt keine Vorratshaltung.

Da klopft es bei der Bauernfamilie. Zaghaft pocht der erwartete Weihnachtsgast mit den knotigen, rissigen Knöcheln seiner Finger ans Fensterglas. Sein Gesicht sieht krank aus, der Bart verdeckt die eingefallenen Wangen. Bevor er nimmt, gibt er. Er hat ein Küchenbrett dabei. Selbst gemacht, natürlich. Kein einfaches Brettchen, ein liebevolles Stück Handwerk. Ein geschnitztes Huhn ist an der Schneidefläche befestigt. Es pickt auf die Platte. "Frohe Weihnachten", bringt er mühsam hervor. Er wechselt in die Zeichensprache, deutet auf den Enkel der Familie. Das Geschenk ist für ihn.

"Frohe Weihnachten" antwortet der Bauer. Seine Augen glänzen. Er ist gerührt. Gebäck wandert über die Fensterbank. Sekunden später ist der Besucher zwischen Eichen und Kiefern verschwunden.

Weihnachtsgeschichten aus 50 Erscheinungsjahren der "65er Nachrichten" trug Vereinsgeschäftsführer und Stadtarchivar Jan Gerull vor. Die Mitglieder hatten sich via Zoom zusammengeschlossen. Ein ungeplanter Jahresabschluss. Eigentlich sollte es nach Aachen ins Kaiser-Karl-Forum und auf den Weihnachtsmarkt gehen. Die Pandemie verhinderte es. Die Alternative kam an beim guten Dutzend Zuhörer. Der in Kurzform umrissene Artikel "Weihnachten auf der Flucht" von Bernadette Schnüttgen stammt aus der Winterausgabe der "65er Nachrichten" im Jahre 1994. Oben das damalige Titelblatt. Die Zoom-Conférenciers waren sich einig: Besser als in Schnüttgens Kindheitserlebnis lässt sich die Botschaft der Weihnacht nicht transportieren.

Im Gespräch mit dem Architekten des Siegburger Rathauses

GAV

10. November Oktober 2021 - Rhein Sieg Forum

Sucht man nach einer aussagekräftigen Dachzeile für das umfangreiche Schaffen des 1933 geborenen Architekten Peter Busmann, dann wird häufig geschrieben: Er baute Orte des Lernens. Zu seinem Frühwerk gehört das Max-Ernst-Gymnasium in Brühl, wo ihn der Kultusminister bei der feierlichen Eröffnung aufgrund seiner Jugend für den Schülersprecher hielt. Später kamen die Kölner Hochschule für Musik und Tanz oder auch die Beueler Gesamtschule hinzu. Und obwohl das 1968 eingeweihte Siegburger Rathaus keine Schule im klassischen Sinne ist, so trafen sich hier zwei Jahrzehnte nach der Stunde Null doch Lernende der Demokratie. Busmann spricht von einer Haltung, die von den Deutschen verlangt worden sei. Die besten Lehrmeister seien die britischen Besatzer gewesen. "Sie haben uns zu Demokraten erzogen." Für den Rathausarchitekten bedeutete Haltung: zurücknehmend, zweckmäßig und transparent bauen, nicht pompös und einschüchternd. Das Objekt sollte zudem die Bedeutung des Rates als Repräsentanz der Bürgerschaft betonen. Der Trakt zum Schützenhaus mit seinen breiten Fensterfronten trug der Aufgabe Rechnung.

Auf Einladung des Geschichtsvereins kam Busmann am Mittwoch in den Konferenzraum 1 des Rhein Sieg Forums, um im Gespräch mit Barbara Guckelsberger, frisch pensionierte Technische Beigeordnete und Vereinsmitglied, auf den Prozess der Rathauswerdung einzugehen. An einem einzigen Tag sei das Konzept fertig gewesen, mit dem sich der nicht einmal 30-Jährige gegen 50 namhafte Teilnehmer im Architektenwettbewerb durchsetzte. Dem Erfolg folgte die Order des feldherrlich auftretenden Stadtdirektors Dr. Kersken: In zwei Jahren ist das hier über die Bühne! Der Generalissimus an der Verwaltungsspitze hatte die Rechnung ohne den Denkmalschutz gemacht. Das Auftauchen der Vogtburgreste im Erdboden legte die Baustelle zwölf Monate lahm. Die Archäologen übernahmen. "Das hat mich gerettet. Ich hatte Zeit, im Detail zu planen." Kersken arbeitete sich derweil an Denkmalpfleger Hugo Borger ab, einer zweiten Ego-Übergröße. Die Beziehung der Männer barg reichlich Konfliktpotential.

Busmann blendete zahlreiche Details ein. Bei der Waschbetonfassade habe er sich gegen die in der Region üblichen Rheinkiesel entscheiden. "Sie waren mir zu dunkel." Er ließ Steinchen aus der Marmormetropole Carrara in Italien liefern, in freundlicherem Weiß. Kopfschüttelnd quittiert er noch heute die nichtexistierende Anteilnahme der Kreativwelt an seinem Projekt. "Künstlerische Impulse waren mir immer wichtig. Sie blieben aus. Ich hatte damals den Eindruck, Siegburg sei eine durch und durch amusische Stadt." Vor diesem Hintergrund wirkte die Aufstellung der "Hänsel und Gretel"-Plastik neben dem Haupteingang wie ein Feigenblatt.

Und dann war da die Sache mit dem Vorplatz, den wir als Nogenter Platz kennen. Der Italienfreund wollte eine Piazza-Piazzetta-Situation schaffen. Der Flaneur sollte vom großen Markplatz, der Piazza, auf den kleinen, aber nicht weniger attraktiven Rathausvorplatz, die Piazzetta, gelangen. Die Bebauung der 1970er-Jahre habe das Entree verengt, seinem Werk die Wirkung genommen. "Hätte ich damals das heutige Standing gehabt, hätte ich rechtliche Schritte eingeleitet. Siegburg war diesbezüglich der Ort meiner größten Frustration."

Bei der aktuellen Grundsanierung und Aufstockung sind neuerliche Enttäuschungen nicht zu erwarten. Der Urheber Busmann begleitet die Arbeiten eng.  

Fotos: Am Vormittag erkundeten die Mitglieder des Geschichtsvereins das neue Rhein Sieg Forum, Hallenchef Frank Baake führte unter anderem zum neuen Innenhof. Nachmittags lauschten und diskutierten die Exkursionsteilnehmer den vortragenden Peter Busmann und Barbara Guckelsberger.

Was vom Dritten Reich übrig blieb

Besuchergruppe am Thingplatz in Herchen
links: Reitermosaik, rechts: buddhistischer Glockenturm

6. Oktober 2021 - Nazistätten in der Region

Ortsmitte Windeck-Herchen. Ein Reisebus hält, entlässt 30 Schirmträger in den Dauerregen. Suchend blickt sich die Gruppe um: Wo ist der Pfad zur Thingstätte? Die Bevölkerung gibt sich verblüfft bis zugeknöpft. "Thingstätte? Nie gehört." Ein Kriegerdenkmal am Ende einer Lichtung am Hang, wirklich nie gehört oder gesehen? "Doch, na klar. Da rein, durch die Büsche, dann sind sie in zwei Minuten da."

Einen 'Lost Place', einen verlassenen Platz, hatte sich der Siegburger Geschichtsverein als Exkursionsziel auserkoren. Die Thingstätte unter Eichen und Ahorn ist ein Relikt der Nazizeit. Seit Jahrzehnten gestaltet sich der Umgang kompliziert. Mal ließ man sie zuwachsen, mal kümmerte man sich um die Pflege - der Pflege des Grüns und der Geschichte.
Schüler führten vor knapp zehn Jahren eine Reinigungsperformance zum Austreiben der bösen Geister durch. Das mediale Echo war beachtlich. Die Message kam nicht bei jedem an. Bisweilen muss der Bonner Staatsschutz in den äußersten Osten des Rhein-Sieg-Kreises ausrücken, weil Unverbesserliche mit kahlgeschorenem Haupt nach historischen Anknüpfungspunkten stochern. Stammgäste sind die Glatzen nicht. Teenager aus dem Dorf kommen rauf, um Erfahrungen mit Hochprozentigem zu sammeln. Siegsteig-Wanderer halten vor der Tafel, die das Werden der Waldbühne erläutern.
Die Initiative für den Bau im Bergischen stammte von Robert Ley, ganz in der Nähe aufgewachsener Hauptorganisator der braunen Truppe und in der Regimerangliste auf Position fünf oder sechs. Das "Thingstätte"-Konzept ersann Chefpropagandist Goebbels. Er verfolgte zwei Ziele. Erstens: das verherrlichende Gedenken an die toten Soldaten des Ersten Weltkrieges. Die Stilisierung des kaiserlichen Kanonenfutters zu Helden sollte die Opferbereitschaft für einen neuen Krieg erhöhen. Zweitens: theatralische Darbietungen zur Festigung der Ideologie. Mimen und Zuschauer, so die Idee, vereinigen sich ekstatisch zu einem großen Ganzen. Herchen blieb zwar nicht von Parteiveranstaltungen jeglicher Art, aber von solch schauerlichen Aufführungen verschont. Überhaupt kam die Thingentwicklung schnell zum Erliegen. Von 400 geplanten Stätten im Reich wurde nur ein Bruchteil fertig. Die Gründe waren vielfältig. Film, Radio und die Massenaufmärsche bei den Reichsparteitagen boten effizientere Möglichkeiten der Beeinflussung. Zudem stockte die Produktion der Stücke. Es gab schlicht zu wenige "Dramatiker" für die hochfliegenden Pläne.

Nach dem Abstieg vom Thingplatz in Windeck-Herchen steuerte man das Buddhistische Zentrum in Waldbröl an. Das Großgebäude war Pflege- und Heilanstalt psychisch Kranker und geistig Behinderter, ehe die Nationalsozialisten ein "Kraft-durch-Freude-Hotel" mit eigener architektonischer Formensprache errichteten. Die 700 Bewohner der Heilanstalt wurden in andere Einrichtungen verfrachtet, fielen später dem Euthanasie-Programm zum Opfer.

Das NS-Ressort sollte luxuriösen Urlaub für alle möglich machen. Im Vordergrund stand nicht die Regeneration, sondern die Indoktrinierung. Metergroße Mosaike zeigen ideologische Idealvorstellungen: muskulöser Mann zähmt Pferd, blondes Bauernpaar beackert Feld - ein Ariernachweis in tausend Steinen, ein zusammengesetztes Bild von "Blut und Boden". Selbst im Krieg durfte an der monumentalen Herberge weitergebaut werden. In Betrieb ging sie nie. Mit einigem Sarkasmus kann man sagen: In der finalen Phase des Weltengemetzels diente das Objekt als Lazarett wirklich der Erholung ...

Seit mehr als einer Dekade halten buddhistische Mönche und Nonnen das Haus in ihrem Besitz. Die Kuttenträger beten und meditieren gegen den Ungeist an, der in den Mauern wohnte. Feinfühlige meinen, es laufe sich jetzt tatsächlich leichter über den toskanischen Marmor. Für die ermordeten Behinderten installierten die neuen Eigentümer einen Wald aus Stoffherzen. Stille und Kontemplation beherrschen die langen Gänge. Gestresste Besucher aus Köln und Bonn reisen zum Wanderwochenende oder zu Achtsamkeitsseminaren an. Gesprochen wird selten, absolute Innerlichkeit ist gefragt. Verkehrssprache der Schwestern und Brüder, so die Schilderung von Phap Xa, einem Niederländer mit ostasiatischer Sozialisierung, sei Vietnamesisch. Mit den Besuchern spreche man selbstverständlich Deutsch.

Vor dem Haus schlägt die Gemeinschaft jeden Morgen die schwere Glocke am 20 Meter hohen Turm, der Stupa. Ein heiliges Ritual, ein buddhistischer Gottesdienst. Die Steine, aus denen der Turm besteht, wurden ebenfalls von den selbsternannten Herrenmenschen hinterlassen. Sie waren herbeischafft, aber nicht mehr verbaut worden.

Wer sich weitergehend informieren möchte, liest den Artikel "Was vom Dritten Reich übrigblieb", geschrieben von Dr. Elisabeth Knauer für die aktuellen Heimatblätter des Geschichtsvereins. Interessenten melden sich bitte unter gav@siegburg.de.

 

Superspreader Luther

Lutherausstellung und Stadtrundgang in Worms.

Bei Luther in Worms am 1. September 2021

Reich ausgestattet mit historischen Identitäten ist Worms am Rhein. Worms ist Nibelungenstadt, Stadt mit uralter jüdischer Tradition und dem weltbekannten jüdischen Friedhof. Schließlich Lutherstadt, Stadt des "Hier stehe ich und kann nicht anders!"

Auf den Spuren des Reformators wandelte der Siegburger Geschichtsverein am Mittwoch, sah ihn in Eisen gegossen im Kreis anderer Glaubenserneuerer, auf pathosgeladenen Gemälden als deutschen Nationalhelden. Sogar in seine übergroßen Schuhe stieg man ein. Eine künstlerisch clevere Idee, die Wirkkraft des bibeltreuen Gewissenstäters darzustellen.

"Gewissen und Konflikt", so heißt die Ausstellung 500 Jahre nach Luthers Auftritt vor dem Reichstag zu Worms. Der Begriff Reichstag ist irreführend. Eher waren es Reichsmonate. Gänse, Rebhühner, Fische, Bier und Wein, alles wird für die hohen Herren besorgt, bis in der weiten Region kein Hühnerbein mehr zu kaufen ist. Außerhalb der Mauern darben die Bauern. In den Mauern schwelgen Adel und Klerus in ausufernder Dekadenz. Für die versammelten Großen des Reichs ist die Sache Luther zunächst ein Randaspekt. Sie wollen den jungen Kaiser Karl V. kennenlernen, ihre Vorrechte fortgeschrieben sehen. Das Volk, erregt und aufgepeitscht durch die Druckerzeugnisse Wittenberger Ursprungs, will ihn sehen, den mutigen Agitator. Die Museumsführerin bringt es auf den Punkt: "Luther ist ein Superspreader." Anhänger und Widersacher streiten nicht nur mit Worten. Beinahe jede Nacht gibt es Tote. Luther kommt, erhält Bedenkzeit, widerruft seine Thesen nicht. Er verteidigt wortstark seinen Standpunkt.

Die Exhibition im Wormser Andreasstift benennt und zeigt Charakterstarke im weiteren Verlauf der Zeit, die als David dem Goliath die Stirn boten. Besonderes Augenmerk liegt auf widerständigen Frauen: von Anne Hutchinsons Kampf gegen die Puritaner Neuenglands über die streitbare Schriftstellerin Olympe de Gouge aus der Französischen Revolution bis zur Liberalen Hildegard Hamm-Brücher, die sich ihrem Gewissen verpflichtet fühlt und gegen den Koalitionswechsel ihrer Fraktion von den Sozial- zu den Christdemokraten im Jahre 1982 stimmt. Am Ende steht ein sorgenvoller Blick in die Zukunft. Ist der in Kirchen aufgestellte Segensautomat "BlessU" der Vorbote einer Ära, in der Maschinen neben funktional-technischen zutiefst menschliche Aufgaben übernehmen? Und weitergefragt: Hat Künstliche Intelligenz ein Gewissen?

Verbrechen auf Jahreshauptversammlung

Jahreshauptversammlung im Museum

Jahreshauptversammlung am 25. August 2021

Urkundenfälschung bei der Jahreshauptversammlung des Geschichts- und Altertumsvereins (GAV) am Mittwochabend im Museum - zum Glück nur vor dem offiziellen Teil, im kriminalhistorischen Vortrag von Hans-Willi Kernenbach. Kernenbach erinnerte an die Merowinger und ihre notorischen Notariatsvergehen. Im Fälschen des Kleingedruckten, das damals noch Kleingeschriebenes war, machte ihnen kaum einer etwas vor. Die wenigen Auserwählten, die Sätze auf Pergament bilden konnten, wussten ihr Herrschaftswissen zu Herrschaftszwecken weidlich auszunutzen.

Der pensionierte Mordermittler Kernenbach durchquerte eiligen Schrittes 2.000 Jahre Strafrechtsgeschichte. Von den Germanen, die am Thing zusammentraten, um politische und juristische Fragen zu klären, über spektakuläre Fälle aus den Siegburger Schöffengerichtsprotokollen des 16. Jahrhunderts ("Vier Wochen vom Tod im Fluss bis zur Leichenschau - da konnte man sehen, was Biologie und Chemie fertigbringen") und weiter zum Foltermord in der JVA 2006. Was als harmloses Fingerklopfen für den Verlierer eines Kartenspiels begann, artete in eine stundenlange Orgie der Gewalt aus.

Friedlich und einvernehmlich verlief die anschließende Sitzung. Neben einer Anpassung der Satzung an die Erfordernisse der Zeit standen Personalentscheidungen an. Erster Vorsitzender ist nach alter Tradition des 1903 gegründeten Vereins immer der Siegburger Bürgermeister, nun folglich Stefan Rosemann. Zur Schriftführerin wurde Susanne LoBartolo gewählt, sie ersetz Harald Uecker, der den Posten mehr als vier Jahrzehnte bekleidete. Zum Co-Kassenprüfer bestimmten die Versammelten Michael Hohn, der das Amt von Helmut Löhr übernimmt. Er überprüft zusammen mit dem wiedergewählten Hans-Joachim Dohm die Finanzen.

Die nächste Exkursion des GAV zur Lutherausstellung nach Worms am Mittwoch nächster Woche ist ausgebucht. Am 6. Oktober geht es weiter mit Besichtigungen ehemaliger NS-Bauten rechts des Rheins. Bei Mitgliedschaftsinteresse bitte eine E-Mail an gav@siegburg.de senden.

Fotos: Hans-Willi Kernenbach, oben rechts, entführte in die Welt des Verbrechens.

Die Schäl Sick vor 2.000 Jahren

Germanenausstellung in Bonn

Germanen-Schau im Bonner LVR-Landesmuseum am 14. Juli 2021

Sie sind doch politisch gefestigt? Überraschende Frage des Guides, der die Gruppe des Siegburger Geschichtsvereins auf der ersten Post-Lockdown-Exkursion im LVR-Landesmuseum in Bonn empfing. Gezeigt wird die Ausstellung "Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme", und weil die Germanen - ein unscharfer Sammelbegriff für die vor 2.000 Jahren lebenden Völker zwischen den Kelten im Westen und den Skythen im Osten - und das angeblich germanische Wesen in der jüngeren deutschen Geschichte als ideologische Kampfbegriffe missbraucht wurden, musste der Museumserklärer seine Zuhörer gleich vorweg von möglicherweise falschen Vorstellungen befreien.

Wir beginnen nicht bei Adam und Eva, setzen ein wenig später ein, bei den Alten Römern. Sie formen den Begriff "Germania", entleihen ihn wohl von Stämmen, die zur Zeit Christi im Gebiet des heutigen Belgien siedeln. Diese frühen Flamen und Wallonen nutzen für jene auf der anderen Seite des Rheins das G-Wort. Wir sehen die Bewohner von Weser und Elbe, Donau und Weichsel durch die Augen der Zivilisierten: Was an schriftlichen Quellen über die Bärenfellträger (planvoll geschneidertes Bärenfell als Winterbekleidung, nicht die primitiven Umhänge, die uns die Filmwelt vorgaukelt) stammt aus römischer Provenienz. Tacitus lässt grüßen.

Der Siegburger Verein erfuhr Erstaunliches. Der Rhein ist kein Eiserner Vorhang. Waren und Personen wechseln fluide hin und her, die Römer importieren Bären, die der Unterhaltungsindustrie dienen, in den Arenen gegen Gladiatoren aufgehetzt wurden. Wenige Jahre nach Ankunft der Legionen ist das östliche Einzugsgebiet des großen Stroms bärenfrei. Die Germanen handeln mit den Römern, an Lebensart übernehmen sie wenig. Ihre Häuser bleiben hölzern, was durch Witterung und Fäulnis einen Neubau in jeder Generation notwendig macht. Sie lehnen Geldwirtschaft ab, in die Münzen der Linksrheinischen bohren sie Löcher, nutzen sie als Halsschmuck. Sie haben Schweine, Ochsen und Schafe, leben mit dem Vieh unter einem Dach. Die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel schöpfen sie restlos aus, kleinste Tierknochen werden zu Werkzeug.

Gerste und Hirse sind die Feldfrüchte, die in einem zwei bis drei Kilometer großen Radius um ihre Dörfer gedeihen. Zumindest im Umkreis der Siedlungen gibt es ihn nicht, den undurchdringlichen Urwald, den Tacitus beschreibt. Eher eine offene Waldlandschaft. Die Vorfahren produzieren Eisen, aber längst nicht in der römischen Quantität. Buntmetall fehlt ihnen ganz. Sie sind in ständiger Bewegung, schon vor der Völkerwanderung mischen sich die Sippen dauerhaft, folgen demjenigen, dem die Götter das größte Kriegsglück verheißen. Ihr Gesellschaftsaufbau gleicht der Organisationsstruktur moderner Unternehmen, ist geprägt von flachen Hierarchien. Natürlich wird auch sie im Landemuseum beschrieben, die legendäre Varusschlacht im Jahre 9 n.Chr. in Kalkriese nahe Osnabrück. Die Germanen kennen die hohle Gasse am Ausläufer des Teutoburger Waldes, durch welche ihre hochaufgerüsteten Feinde kommen. Kommen müssen. Tagelang tobt der asymmetrische Krieg, dann sind die Römer geschlagen. Deren Waffen streicht man ein, die Einzelteile der Besiegten überlässt man den Krähen. Was nicht vergessen werden darf: Zwar finden in Kalkriese bis zu 20.000 Römer den Tod, eine gewaltige Niederlage für die Weltmacht. Aber auch die Verluste auf Seiten der Guerillas sind enorm. Ganzen Landstrichen fehlen in der Folge die jungen Männer.

Foto: Bonn in der Römerzeit. Eine sehenswerte Visualisierung empfängt den Besucher in der Ausstellung

Digitalvortrag zu NS-Medizinverbrechen

Online-Vortrag zu NS-Medizinverbrechen

Online-Vortrag zu NS-Medizinverbrechen am 24. Februar 2021

Die Diagnose: Angeborener Schwachsinn. Die Folge: Unfruchtbarmachung. Wilhelm W. lebt in den 1930er-Jahren in einer Barackensiedlung an der Zeithstraße und schuftet beim Bau der neuen Reichsautobahn Köln-Frankfurt, als seine Intelligenzminderung, damals als Schwachsinn bezeichnet, zu einer Anzeige beim Gesundheitsamt führt. Das Amt leitet den Fall zum Erbgesundheitsgericht in Bonn weiter, welches entscheidet: Wilhelm W. soll keine Kinder zeugen, die deutsche Rasse vor Degeneration geschützt werden.

Medizinverbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus - kein leichtes Thema, das der Geschichts- und Altertumsverein für seinen Onlinevortrag gewählt hatte. Es war die erste Digitalveranstaltung in der seit 1903 währenden Historie des Vereins. Referent Ansgar Klein, der in den letzten drei Jahren Zwangssterilisationen und Euthansiefälle auf dem Gebiet des heutigen Rhein-Sieg-Kreises - früher die Kreise Sieg und Bonn Land - untersuchte, zeichnete den Weg von der Anzeige an den Amtsarzt über den offiziellen Antrag ans Gericht bis hin zum operativen Eingriff in Bonner Krankenhäusern nach.

Die Anzeigen auf Unfruchtbarmachung kamen von Haus-, Gefängnis- und Fürsorgeärzten, von Leitern psychiatrischer Kliniken, den sogenannten Heil- und Pflegestätten, aber auch von Lehrern und Nachbarn. In Siegburg beteiligt waren die Amtsärzte Bange und Witkop, Gefängnisarzt Hohn und Gefängnisdirektor Cremer, nachgewiesen auch die in der Bergstraße praktizierende Kinderärztin Baare. Das Denken, ungesunde Elemente aus dem Volkskörper auszumerzen, hatte massenhaft in den Köpfen eingerastet. Allein 2.400 Anzeigen aus dem rechtsrheinischen Siegkreis sichtete der Historiker Klein. Die Anzeigensteller blieben im Verfahren anonym, der Denunziation war Tür und Tor geöffnet.

Weil nach 1945 das am 1. Juli 1933 verabschiedet "Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" nicht als rein nationalsozialistisch gewertet wurde (andere Länder wie die Schweiz, Kanada oder einzelne US-Bundesstaaten hatten ähnliche Lenkungsmechanismen der Fortpflanzung festgeschrieben), mussten die Opfer bis 1998 warten, bis sie offiziell als solche anerkannt wurden. Klein streifte den späteren Patientenmord im Rahmen der Aktion T4, in der Behinderte in Mordkammern der "Heilstätten" umgebracht wurden. Er nannte die Namen einiger Siegburger Opfer: Katharina Orth, geborene Lülsdorf, Maria Magdalena Klein oder den Wolsdorfer Heinrich Weber. Im Gegensatz zur Zwangssterilisation, die von breiten Bevölkerungskreisen akzeptiert wurde, stieß die heimlich ausgeübte Tötung, die gegenüber den Hinterbliebenen durch die Angabe falscher Todesursachen verschleiert wurde, auf breite Ablehnung. Die Predigten Kardinal von Galens oder die Opposition des Friedrich von Bodelschwingh in Bethel stoppten die zentral gelenkte Vernichtung. Das Morden ging trotzdem weiter. Im Zuge der sogenannten "Wilden Euthanasie" ließ man die in Psychiatrien Untergebrachten verhungern.

Infos zur Studie: Das Buch "'Euthanasie', Zwangssterilisationen, Humanexperimente. NS-Medizinverbrechen an Rhein und Sieg 1933-45" ist im Böhlau-Verlag erschienen und kann im Buchhandel bestellt werden. ISBN: 973-3-412-52000-7.

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